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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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sahen die beiden sich so häufig, als müsse etwas nachgeholt werden, als gelte es, die verlorenen Jahre der Mauerzeit auszugleichen. Sie waren ein besonderes Paar.
    Wenn Mutter Tante Jenny besuchte - und ich Zeuge sein durfte -, wirkte sie schüchtern und gab sich als kleines Mädchen, das ihr kürzlich noch einen üblen Streich gespielt hatte.
Nun wollte sie den Schaden wiedergutmachen. Tante Jenny hingegen schien alles, was vor vielen Jahren an Schlimmem geschehen war, verziehen zu haben. Ich sah, wie sie Mutter im Vorbeihumpeln gestreichelt hat. Dabei lispelte sie: »Ist ja gut, Tulla, ist ja gut.« Dann schwiegen beide. Und Tante Jenny trank ihre heiße Zitrone. Außer den beim Baden ertrunkenen Konrad und neben dem straffällig gewordenen Konny hat Mutter, wenn überhaupt noch jemanden, ihre Schulfreundin geliebt.
    Seitdem ich Anfang der sechziger Jahre ein Zimmerchen in der Schmargendorfer Mansardenwohnung bewohnt hatte, ist dort kein Möbel verrückt worden. Alles, was an Nippes rumsteht und dennoch nicht verstaubt, sieht wie von vorgestern aus. Und wie bei Tante Jenny jede Wand, auch die Schrägwände mit Ballettfotos tapeziert sind - sie, die unter dem Künstlernamen »Angustri« bekannt wurde, als Giselle, in »Schwanensee« und »Coppelia«, gertenschlank solo oder neben ihren gleichfalls zierlichen Ballettmeister gestellt , so ist Mutter innen und außen von Erinnerungen beklebt. Und wenn man, wie gesagt wird, Erinnerungen tauschen kann, war und ist in der Karlsbader Straße der Umschlagplatz für solch haltbare Ware zu finden.
    Also wird sie gelegentlich einer Berlinreise - vor oder nach dem Besuch bei Tante Jenny - im KaDeWe aus dem Angebot von Baukästen für Bastler ein ganz bestimmtes Modell herausgesucht haben. Nicht das Dornier-Wasserflugzeug »Do X«, kein KönigstigerPanzermodell, weder das Schlachtschiff Bismarck, das bereits einundvierzig versenkt wurde, noch der Schwere Kreuzer Admiral Hipper, den man nach Kriegsende abgewrackt hat, schienen ihr als Geschenk geeignet zu sein. Nichts Militärisches hat sie ausgewählt; dem Passagierschiff Wilhelm Gustloff galt ihre Vorliebe. Wahrscheinlich hat sie sich von niemandem beraten lassen, denn Mutter hat schon immer gewußt, was sie wollte.
    Es muß meinem Sohn auf Antrag erlaubt worden sein, den besonderen Gegenstand im Besucherzimmer vorzuzeigen. Jedenfalls nickte der aufsichtführende Beamte wohlwollend, als der Häftling Konrad Pokriefke beladen mit dem Modellschiff kam. Was ich sah, ließ Gedanken von der Spule, die sich zum Knäuel verwirrten. Hört das nicht auf? Fängt diese Geschichte immer aufs neue an? Kann Mutter kein Ende finden? Was hat sie sich dabei gedacht?
    Zu Konny, dem inzwischen Volljährigen, sagte ich: »Ganz hübsch. Aber eigentlich solltest du aus dem Alter für solche Spielereien raus sein, oder?« Und er gab mir sogar recht: »Weiß ich. Doch wenn du mir, als ich dreizehn oder vierzehn war, zum Geburtstag die Gustloff geschenkt hättest, müßte ich diesen Kinderkram jetzt nicht nachholen. Hat aber Spaß gebracht. Zeit genug hab ich ja, oder?«
    Der Vorwurf saß. Und während ich noch daran kaute und mich fragte, ob eine rechtzeitige Beschäftigung mit dem verfluchten Schiff als bloßer Modellbau, zudem unter väterlicher Anleitung, womöglich meinen Sohn vom Schlimmsten abgehalten hätte, sagte er: »Hab mir das von Oma Tulla gewünscht. Wollt mal plastisch vor Augen haben, wie das Schiff ausgesehen hat. Sieht doch ganz nett aus, oder?«
    Vom Bug bis zum Heck zeigte sich das Kraft-durch-Freude-Schiff in seiner ganzen Schönheit. Aus vielen Teilen hatte mein Sohn den klassenlosen Urlaubertraum zusammengesetzt. Wie geräumig und von keinen Aufbauten versperrt das Sonnendeck war! Wie elegant mittschiffs der einzige Schornstein, bei leichter Neigung zum Heck hin, stand!
    Deutlich erkennbar das verglaste Promenadendeck! Unter der Kommandobrücke der Wintergarten, Laube genannt. Ich überlegte, wo im Schiffsinneren das E-Deck mit dem Schwimmbecken sein könnte, und zählte die Rettungsboote: keines fehlte.
    Konny hatte das weißglänzende Schiffsmodell in ein eigens von ihm gefertigtes Drahtgerüst gestellt. Bis zum Kiel blieb der Rumpf sichtbar. Ich sprach nun doch, wenngleich ironisch unterlegt, meine Bewunderung für den tüchtigen Bastler aus. Er reagierte auf mein Lob mit kicherndem Lachen, zauberte ein Pastillendöschen aus der Tasche, in dem er, wie sich zeigen sollte, drei rote, etwa pfenniggroße Aufkleber bewahrte. Und
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