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Im Krebsgang

Im Krebsgang

Titel: Im Krebsgang
Autoren: Günter Grass
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zitierbar werden könnte.
    Er sagt: »Niemand weiß, was er dachte und weiterhin denkt. Jede Stirn hält dicht, nicht nur seine. Sperrzone. Für Wortjäger Niemandsland. Zwecklos, die Hirnschale abzuheben.
Außerdem spricht keiner aus, was er denkt. Und wer es versucht, lügt mit dem ersten Halbsatz. Sätze, die so beginnen: Er dachte in jenem Augenblick... oder: In seinen Gedanken hieß es... sind immer schon Krücken gewesen. Nichts schließt besser als ein Kopf.
Selbst gesteigerte Folter schafft keine lückenlosen Geständnisse. Ja, sogar in der Sekunde des Todes kann gedanklich geschummelt werden. Deshalb können wir auch nicht wissen, was sich Wolfgang Stremplin gedacht hat, als in ihm der Entschluß keimte, im Internet als Jude David eine Rolle zu spielen, oder was in seinem Kopf wortwörtlich vorging, als er stehend vor der Jugendherberge Kurt Bürger sah, wie sein Freundfeind, der sich online Wilhelm genannt hatte, nun, als Konrad Pokriefke, die Pistole aus der rechten Tasche seines Parka zog und nach dem ersten, dem Bauchschuß, mit drei weiteren Schüssen seinen Kopf und dessen verschlossene Gedanken traf. Wir sehen nur, was wir sehen. Die Oberfläche sagt nicht alles, aber genug. Keine Gedanken also, auch keine nachträglich ausgedachten. So, sparsam mit Worten, kommen wir schneller zum Schluß.«
Wie gut, daß er nicht ahnt, welche Gedanken ganz gegen meinen Willen aus linken und rechten Gehirnwindungen kriechen, entsetzlich Sinn machen, ängstlich gehütete Geheimnisse preisgeben, mich bloßstellen, so daß ich erschrocken bin und schnell versuche, anderes zu denken. Zum Beispiel dachte ich an ein Geschenk für Neustrelitz, an etwas, das ich für meinen Sohn mir auszudenken versuchte, eine kleine Aufmerksamkeit, geeignet für den ersten Besuchstag.
Da ich alle den Prozeß kommentierenden Zeitungsberichte per Ausschnittdienst zugeschickt bekommen hatte, lag mir aus der »Badischen Zeitung« ein Foto von Wolfgang Stremplin vor. Darauf sah er nett, aber nicht besonders aus. Ein Abiturient vielleicht, gewiß jemand im wehrpflichtigen Alter. Er lächelte mit dem Mund und wirkte um die Augen ein wenig traurig. Sein dunkelblondes Haar trug er ohne Scheitel leicht gewellt. Ein junger Mann, der aus offenem Hemdkragen den Kopf nach links neigte. Womöglich ein Idealist, der weißnichtwas dachte.
Im übrigen war die Kommentierung des Prozesses gegen meinen Sohn, vom Umfang her, enttäuschend mäßig ausgefallen. Zur Zeit der Verhandlung hatte es in beiden Teilen des nun vereinten Deutschland eine Reihe rechtsradikaler Straftaten gegeben, unter ihnen der versuchte Totschlag mit Baseballschlägern an einem Ungarn in Potsdam und die Niederknüppelung eines Bochumer Rentners mit Todesfolge. Unablässig und überall schlugen Skins zu. Politisch motivierte Gewalt gehörte mittlerweile zum Alltag, desgleichen Appelle gegen rechts; so auch das Bedauern von Politikern, die den Gewalttätern in Nebensätzen verpackten Zunder lieferten. Es kann aber auch sein, daß der unbestreitbare Sachverhalt, demzufolge Wolfgang Stremplin kein Jude gewesen ist, das Interesse am laufenden Prozeß gemindert hat, denn anfangs, gleich nach der Tat, hatte es bundesweit fette Schlagzeilen gegeben: »Jüdischer Mitbürger erschossen!« und »Feiger Mord aus Judenhaß!« So auch die Betitelung des Fotos - »Das Opfer der jüngsten antisemitischen Gewalttat« -, die ich unterm Bild abgeschnitten habe.
Und so befand sich bei meinem ersten Besuch in der Jugendhaftanstalt - einem ziemlich maroden Gebäude, das nach Abriß verlangte - als Mitbringsel in meiner Brusttasche das Pressefoto von Wolfgang Stremplin. Konny sagte sogar danke, als ich ihm die nur einmal gefaltete Ablichtung zuschob. Er strich sie glatt, lächelte. Unser Gespräch verlief schleppend, doch immerhin sprach er mit mir. Im Besucherraum saßen wir uns gegenüber; an anderen Tischen hatten gleichfalls jugendliche Straftäter Besuch.
Da mir verboten worden ist, der Stirn meines Sohnes Gedanken abzulesen, bleibt nur zu sagen, daß er sich, seinem Vater konfrontiert, wie gewohnt verschlossen, aber nicht abweisend zeigte. Sogar eine Frage nach meiner journalistischen Arbeit war mir vergönnt.
Als ich ihm von einer Reportage über das in Schottland geklonte Wunderschaf Dolly und dessen Erfinder berichtete, sah ich ihn lächeln. »Dafür wird sich Mama bestimmt interessieren. Sie hat es ja mit den Genen, speziell mit meinen.«
Dann hörte ich von der Möglichkeit, im Freizeitraum der
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