Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Herzen Rein

Im Herzen Rein

Titel: Im Herzen Rein
Autoren: Andrea Vanoni
Vom Netzwerk:
interessant macht«, überlegte sie.
    »Meinen Sie, Gesichter können täuschen?«
    »Das ist meine Erfahrung, ja.«
    Die Frau gab ihr die Hand. »Ich heiße Chris Gregor.«
    »Ich bin Paula Zeisberg.«
    »Paula gefällt mir. So hieß meine Lieblingspuppe.«
    Paula erinnerte sich an eine Chris aus der Schule, die sie immer geärgert hatte. Das sagte sie aber nicht.
    Chris Gregor zeigte auf Ralf auf der anderen Seite des Tisches. »Schauen Sie mal. Der sieht doch zum Beispiel nett aus, sympathisch. Aber interessant? Eher doch langweilig. Finden Sie nicht?«
    Paula wusste nicht, ob Chris wirklich ahnungslos war oder ob sie einfach plapperte. Sie tat, als sei Ralf ihr fremd, und sagte: »Ich denke, er ist auch ein Künstler.«
    »Das glaube ich nicht. Dazu sieht er viel zu brav aus.«
    »Manchmal sehen auch Künstler brav aus«, sagte Paula, »und manche, die brav aussehen, sind es gar nicht.«
    »Sind Sie Psychologin?«
    Das konnte ironisch gemeint sein. »Nein, aber ich habe mit Menschen schon überraschende Erfahrungen gemacht. Ich denke, man sieht ihnen selten an, wer sie sind.«
    »Wollen wir einen Test mit dem da drüben machen?«
    »Okay. Er ist Künstler und sehr zuverlässig.«
    »Brav?«
    »Sehr brav.«
    Chris zog überrascht die Augenbrauen hoch.
    Paula lachte. »Wir leben seit zehn Jahren zusammen.«
    »Oh, nein, wie peinlich. Ich möchte das wiedergutmachen.«
    Von da an trafen sie sich regelmäßig. Zumal sie auch beruflichen Gesprächsstoff hatten. Sie liebten es beide, sich in ganz unterschiedlichen Lokalen zu treffen. Sie probierten gern Neues aus. Ralf blieb aber für Chris weiterhin langweilig. Für sie war er ein »Biedermann«, der immer nur Zimmer malte. Später wurde er dann zum »Hausmann« befördert, wegen seiner Kochkünste. Paula tolerierte Chris’ Meinung, für die bei einem Mann nicht die Eigenschaften zählten, die ihn für eine langjährige Beziehung befähigten. Chris verstand ihrerseits, dass Paula lieber in einer Beziehung lebte, als Affären zu haben. Sie brauchte sogar eine Freundin wie Paula, die stabil war. Eine, zu der sie offen sein konnte, vor der sie sich nicht zu verstecken brauchte. Paula wusste, dass Chris sie gerade deswegen mochte, weil sie so anders war.
    Dass Chris mal ihre Chefin werden würde, damit hatte sie allerdings nicht gerechnet. Morde waren bisher nicht ihre Sache gewesen.
    Paula hatte die Schuhe ausgezogen und ihre Füße auf den Sitz gegenüber gelegt. Sie schaute auf ihr Handy - noch eine halbe Stunde bis Berlin.

6
    Vom Gericht war es nicht wirklich nah bis in die Hubertusallee in Grunewald, aber Chris schaffte die Strecke in fünfzehn Minuten, wenn es keine Absperrungen wegen eines Staatsbesuchs gab.
    Zu Hause warf sie ihre Tasche auf den Holztisch in der Küche und setzte Teewasser auf. Die Vier-Zimmer-Altbauwohnung war ihr Nest, in das sie nicht einmal gern Gäste einlud. Außer einem Liebhaber oder Paula kam hier niemand herein. Und wenn sie sich einsam fühlte, setzte sie sich an das kleine Klavier im Wohnzimmer und spielte Fugen von Bach. Lange Zeit war es der Traum ihres Vaters gewesen, dass sie Pianistin werden würde. Eine erfolgreiche natürlich. Er hatte seine schon als Kind hübsche, wenn auch eigensinnige Tochter sehr geliebt und hatte ihr mehr zugedacht als nur die alltägliche Juristerei, die er selbst als Leiter einer Zivilkammer am Landgericht betrieb. Es war klar, dass seine beiden Söhne Jura studierten - Eberhard, der zwei Jahre älter als Chris war, und Gunther, der anderthalb Jahre jüngere. Aber Chris sah er als etwas Besonderes. Sie sollte nicht bloß praktischen Zwecken dienen, wie dem Ausarbeiten von Verträgen, was Gunther jetzt für eine große internationale Firma in Hamburg erledigte, oder eine Firma leiten, wie es Eberhard als Vorstandsprecher eines Stahlkonzerns in Düsseldorf tat. Doch Chris fühlte sich nicht als Künstlerin, sie wollte ihr Leben nicht ausschließlich der Musik widmen, auch wenn sie Spaß am Klavierspielen hatte und eine Zeit lang viel übte. Sie wäre nie eine erfolgreiche Pianistin geworden. Und erfolgreich wollte sie sein, da sah es mit der Juristerei weit besser aus. Damit war sie groß geworden, und der Vater war ihr Vorbild.
    Sie warf einen Blick in den Spiegel und bürstete ihr Haar, bis die Kopfhaut richtig durchblutet war. Durch die Sonne war es noch heller geworden. Sie betrachtete kritisch ihr Gesicht. Ihre Augen schienen im Moment mehr grau als blau. So fühlte sie sich auch: grau, vor allem,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher