Im Herzen Rein
»Ich habe mal eine Dokumentation gesehen, aber das ist natürlich etwas anderes.«
Paula trat an die Aufzugstür und marschierte sofort los, als sie sich öffnete. Von den Fahrstühlen aus ging es nach links und dann nach rechts zu den Leichenhallen. Vor dem Autopsieflügel zeigte sie auf eine Kammer, deren Tür offen stand. »Das Familienzimmer«, sagte sie, ohne im Tempo innezuhalten, »da warten die, die zur Identifikation bestellt werden.« Das Zimmer war leer.
Paula zog Chris in den Umkleideraum, deutete auf das Regal, in dem die grünen Sektionskittel, Hauben und Plastiküberschuhe lagen. Sie zogen die Sachen über und setzten den Weg fort - durch eine weiße Tür, einen breiten Korridor entlang, vorbei an Computerterminals, Rollbahren und weiteren Türen. Der Autopsiesaal 4 befand sich ganz am Ende.
»Da sind Sie ja«, rief Professor Posch.
Die Obduzenten und der Sektionsgehilfe sahen zu ihnen herüber. Alle waren grün gekleidet mit Handschuhen, OP-Kappen und Mundschutz. Scholli Klein, der Fotograf vom Tatort, hatte seine Basketballkappe auch durch eine Plastikhaube ausgetauscht. »Justus ist gerade gegangen«, sagte er.
Die Wände waren weiß lackiert, Tische und Schränke aus Edelstahl. Hygiene war oberstes Gebot. Chris sah mit Unbehagen die Gerätschaften auf dem Rollwagen: Skalpelle, Knochenzangen, Handsägen, Organmesser, Schädelmeißel. Einfach nur registrieren, sagte sie sich, und wenn es komisch riecht, nicht atmen. Die junge Frau von ihrer Parkbank lag nackt und noch in Sitzhaltung erstarrt auf dem Sektionstisch - einer Stahlplatte mit einer Rinne für die austretenden Flüssigkeiten beim Aufschneiden. Für Chris war der Anblick der Toten wie der Blick auf eine Schwester oder sogar wie auf sich selbst. Am oberen Ende des Tisches befand sich an der senkrechten Stange eine große runde Anzeige für das Gewicht.
55 kg, las Paula. Sie betrachtete die Tote. Paula hatte im Sektionssaal schon allerlei gesehen, Fleisch im Stadium der Verwesung, auch Leichen, die durch Gewalteinwirkung so entstellt waren, dass sie kaum noch als Menschen zu erkennen waren. Diese Tote war unversehrter als all die verwesten Leichen, aber Paula empfand ihren Anblick bedrückend. Die von ihrem Mörder aufgezwungene Sitzhaltung wirkte hier auf dem Tisch grotesk und brutal, als hielte er sie noch im Griff.
Chris betrachtete Posch. Er war ein großer Kerl mit kurzem dichtem Haar, gerader Nase und ausgeprägtem Kinn, sein Gesicht war weiß wie Tofu, seine dunklen Augen blickten konzentriert und wach. Er stellte seinen Kollegen Dr. Weinert und den Sektionsassistenten Wenk vor. »Ist die Identität der Toten inzwischen bekannt?«
Chris schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Posch nickte und berichtete: »Die Tote ist angekleidet fotografiert worden mit allen Details, Vorder- und Rückseite. Das Kleid ließ sich von oben bis unten aufknöpfen, die Tote trug keine Unterwäsche. Es sind auch schon Proben von Haaren und Fingernägeln genommen worden, aber mit der äußeren Leichenschau haben wir gewartet. Fragen?«
Chris schüttelte den Kopf.
Posch nahm sein Diktiergerät vor den Mund. »Äußere Leichenschau: Leichnam einer circa zweiunddreißig Jahre alten Frau von schlankem Körperbau, 165 Zentimeter lang, 55 Kilo schwer.« Er sah Paula an. »Wir werden jetzt den Körper an einigen Stellen mit Tupfern abreiben, um mögliche DNA-Spuren festzustellen. Der Täter wird sie an den Händen und Füßen berührt haben, wo er sie gefesselt hat.«
»An den Lippen auch. Er könnte sie geküsst haben«, sagte Paula.
Dr. Weinert reichte Posch den Tupfer, mit dem er der Toten über den Mund fuhr.
»Am Hals bitte auch«, fügte sie hinzu.
Posch betrachtete den Hals, während Weinert ihm wieder einen Tupfer hinhielt. »Flecken sind nicht sichtbar.« Er nahm einen Tupfer für die rechte Seite des Halses und einen zweiten für die linke Seite.
»Und die Region um die Brustwarzen«, sagte Paula.
»An der Mamilla hat er sie natürlich berührt, um den Nadelstich zu setzen, doch ich fürchte, er hatte Handschuhe an.« Er tupfte die Brüste ab, insbesondere den Bereich um den roten Glaskopf der Nadel, die in der linken Brust steckte.
Als Chris diesen Knopf in der Mitte der Brust sah, wurde ihr wieder flau im Magen.
Posch diktierte weiter: »Die Todeszeichen sind zuverlässig ausgeprägt. Leichenstarre ist noch in allen großen und kleinen Gelenken des Körpers vorhanden. Die Leichenflecke entsprechen der Auffindungssituation des Körpers
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