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Im Gewand der Nacht

Im Gewand der Nacht

Titel: Im Gewand der Nacht
Autoren: Barbara Nadel
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ihnen die ältere Dame, der das Haus gehörte, den Zugang zur Zisterne gestattete. Offensichtlich hatte Frau Oncüs Verlangen nach billigem Schmuck, den sie sich durch diese Einnahmequelle leisten konnte, auch im hohen Alter nicht nachgelassen.
    »Möge es gelingen«, sagte sie, als sie Neşe die Schaufel in die Zisterne hinunterreichte.
    Turgut schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl durch die Höhle gleiten, die ein trostloses, aber inzwischen vertrautes Bild bot. Der Schlick reichte fast zur halben Höhe der Säulen, die die Decke trugen. Turgut nahm an, dass große Teile des Unrats noch aus vorosmanischer Zeit stammten. Bisher war es ihnen bei ihren Grabungsarbeiten nicht gelungen, auch nur einen Teil des Bodens freizulegen.
    Neşe ging hinüber zu der kleinen Grube, die sie beim letzten Mal gegraben hatten, und begann, den Schlick mit ihrer Kelle wegzuschaufeln. Nach einer Weile richtete sie sich auf, stützte eine Hand in den Rücken und stöhnte.
    »Ich weiß nicht, wie lange ich das hier noch schaffe«, sagte sie, während sie ihren Sohn beim Graben beobachtete. »Möge Allah mir vergeben, aber ich fühle mich manchmal nicht mehr stark genug dafür. Mein Herz ist noch gut, aber ich bin alt .«
    »Nein, das bist du nicht«, schnaufte ihr Sohn und häufte den Schlamm auf die Pyramide aus Dreck, die sie neben ihrer Ausgrabungsstätte errichtet hatten. »Und außerdem brauchst du ja auch nicht mehr zu graben, wenn wir finden, wonach wir suchen.« Er hielt einen Moment inne, um sich den Schweiß aus den Augenbrauen zu wischen und Luft zu holen. »Es ist eine weithin bekannte Tatsache, dass wir bei unserer Eroberung der Stadt nicht annähernd so viel Gold bei den Griechen fanden, wie Sultan Mehmet Fatih angenommen hatte. Dieses Gold muss irgendwo sein. Und wie Vater schon sagte – es muss sich irgendwo befinden, wo bisher niemand gesucht hat. Wie zum Beispiel hier.«
    »Ja, ja, das weiß ich doch alles«, erwiderte Neşe gereizt und schabte mit der Kelle über den Faulschlamm unter ihren Füßen.
    »Ich sage doch nur, dass es für mich …«
    »Für dich ist es das Gleiche wie für mich«, unterbrach Turgut sie. »Harte Arbeit, die wir nur machen, weil Vaters Traum uns vorantreibt.« Dann drehte er sich um und begann wieder zu graben.
    So arbeitete er eine ganze Weile rhythmisch und zielstrebig vor sich hin und bemerkte gar nicht, dass seine Mutter längst aufgehört hatte zu graben. Doch als es ihm auffiel, erschrak er: Scheinbar versteinert in ihrer gebückten Haltung, deutete Neşe mit zittriger Hand auf eine Stelle vor ihren Füßen.
    Erschrocken warf Turgut seine Schaufel fort und stürzte zu ihr hinüber. »Mama!«
    Aber sie reagierte nicht, sondern gab nur ein kleines gurgelndes Röcheln von sich – wie jemand, der gerade einen Schlaganfall erlitten hat.
    »Mama!«
    Turgut packte sie an den Schultern und versuchte, sie aufzurichten. Aber Neşe schien wie angewurzelt und sträubte sich. Mit glasigen Augen starrte sie auf den Schlick direkt vor ihr, und schließlich sah ihr Sohn, was sie in den Bann geschlagen hatte.
    Als er die Schönheit der antiken Krone erkannte, hielt auch Turgut den Atem an. Das Licht der Taschenlampe spiegelte sich in den Facetten des goldenen, mit Edelsteinen besetzten Kunstobjekts – Smaragde, Rubine und Diamanten von der Größe einer Kinderfaust …
    Turgut zitterte am ganzen Körper vor Erregung. Er streckte seine Hand aus und berührte den Gegenstand vorsichtig mit den Fingern. Die Krone fühlte sich merkwürdig warm an.
3
    Schweigend nahmen die beiden ihre Plätze ein. Mit ihren Shorts, den leuchtend bunten T-Shirts und dunklen Sonnenbrillen, die fast das gesamte Gesicht verdeckten, wirkten sie keineswegs ungewöhnlich – jedenfalls nicht für Angelinos, die Einwohner von Los Angeles. In New York oder Seattle wäre ihr Erscheinungsbild sicherlich etwas aus dem Rahmen gefallen, aber nicht hier, in der Stadt der Engel.
    Doch die dunklen Sonnenbrillen konnten niemanden täuschen. Die Angelinos waren von Geburt an daran gewöhnt, einen Prominenten, wenn nötig, selbst durch dicke Mauern zu erkennen. Außerdem dienten die Brillen auch gar nicht dazu, irgendetwas zu verstecken – sie waren ganz einfach Teil der Uniform: Vitamintabletten, kleine Narben hinter den Ohren, Tiffanyschmuck, dunkle Sonnenbrille.
    Einige der Mitreisenden erkannten die beiden. Aber da sie wie immer erster Klasse flogen, hatte sie bisher niemand angesprochen. Allerdings wusste er genau,
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