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Im Café der moeglichen Traeume

Im Café der moeglichen Traeume

Titel: Im Café der moeglichen Traeume
Autoren: Paola Calvetti
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wenn du dich vernachlässigt fühlst, schicke dir eine Postkarte.« Das klingt fast wie die Glücksphilosophie von Pollyanna, die selbst an den scheußlichsten Tagen gute Gedanken denken konnte. Mir egal, wenn meine Freundin Sarah behauptet, Pollyanna sei eine durchgeknallte Mythomanin, die uns jahrzehntelang vorgegaukelt hätte, dass sich mit einem zufriedenen Herzen sämtliche Probleme lösen ließen. Selbst die Schrulle mit den Postkarten pflege ich noch. Jedes Mal, wenn ich verreise oder in der Stadt etwas sehe, das mir gefällt, oder wenn ich mich allein und »vernachlässigt« fühle (was oft geschieht), schicke ich mir eine. Leider verkauft Glatzkopf keine Ansichtskarten. »Das Unglück«, erklärte mir meine Großmutter, als würde sie mir eines ihrer Geheimnisse anvertrauen, »besteht darin, nicht genug Wünsche zu haben.« So stachelte sie mich dazu an, Wünsche zu formulieren. Ich schrieb sie auf kleine quadratische Zettelchen (die Vorgänger der Post-its), die wir dann mit einer gewissen Feierlichkeit in einem Blumenkübel auf dem Balkon verbuddelten. Manchmal ließen wir zu unserer Pflanzaktion Mozarts Konzert für Flöte, Harfe und Orchester laufen oder hörten dazu das Lied, das meine Großmutter so liebte.
    Quand Olivia rêvait,
    C’était d’un grand amour,
    Plus grand que la forêt
    Et plus beau que le jour.
    Mais qui saura jamais
    Le triste et doux secret
    Qui l’enchantait
    Quand Olivia rêvait …
    Wenn Olivia träumte,
    Träumte sie von der großen Liebe,
    Größer als der Wald
    Und schöner als der Tag.
    Wer aber wird es je kennen,
    Das traurig-zarte Geheimnis,
    Wessen Zauber sie erlag,
    Wenn Olivia träumte…
    Sie sang es vor sich hin und flüsterte irgendwann: »Wir pflanzen Wünsche, Olivia, früher oder später werden die Samen vielleicht aufgehen.« Und es wuchsen Vergissmeinnicht, Margeriten, Geranien und meterweise rankender Efeu, der sehr pflegeleicht ist und auch im Winter grün. Ohne mir etwas davon zu erzählen, hatte meine Großmutter an den unmöglichsten Orten zusammengerollte Zettel versteckt, fast wie Schatzkarten. Jahre später fand ich sie dann, als ich ihre Wohnung übernahm. Die war noch im selben Zustand, wie meine Großmutter sie hinterlassen hatte, weil meine Mutter es nicht übers Herz gebracht hatte, sie aufzulösen. Nach meinem Umzug begann dann die aufregende Jagd nach all diesen Zetteln, in den Schubladen der Kommode, im Schuhschrank, zwischen den Seiten der Kochbücher und denen der Romane. Der legendäre Blumenkübel zerbrach, als ich auf dem Balkon Wäsche aufhängte. Von meinen Zettelchen keine Spur. Waren sie verrottet?
    Von der Wolkenbank, wo sie heute wohnt, schickt sie mir warnende, tröstende und erhellende Botschaften, stets verschlüsselt: Gedichtstrophen, Zeichnungen, Fernsehbilder und seit einiger Zeit auch Internetseiten. An der Autorität meiner Großmutter ist nicht zu rütteln. Man liebt sie, Feierabend. Sie ist nie aus meinem Leben verschwunden, und jetzt hätte ich ihren Rat wirklich bitter nötig. Unten steht derweil eine Alte vor Glatzkopf und schreit: »Machen Sie bitte die Kreuze bei 10, 12, 19, 30, 85 und 90, ich kann nämlich nicht mehr gut sehen. Kreuzen Sie aber die richtigen Zahlen an.«
    11:17 Uhr
    Das Kondenswasser hat einen Halbmond auf das Fenster gezeichnet, das schwitzt wie ein fieberndes Kind. Ich atme ein und aus, ein und aus, ein und aus, immer schön ins Zwerchfell. Um gegen eine erneute Tränenwelle anzukämpfen, presse ich die Nase ans eisige Glas. Ich sehe die phosphoreszierenden Westen der Schneefeger, die mit abgezirkelten Bewegungen den Gehweg räumen. Ich beobachte, wie eine junge Fahrradfahrerin mit karottenroten Haaren ins Schleudern gerät, und da kippt sie auch schon. Glücklicherweise bekommt sie die Füße auf die Erde und kann das Fahrrad am Lenker festhalten. Die Orangen rollen wie Billardkugeln aus dem Korb. Ich würde gern helfen, Signorina, aber ich bin ja hier oben, wie soll ich das bewerkstelligen? Ich lächele die Fremde an – der Schnee steht Ihnen! –, die sich jetzt wieder auf den Sattel gesetzt hat und nicht im Mindesten beunruhigt wirkt. Ich sehe die Wangen eines kleinen Jungen, der nach oben schaut. Hallo, hörst du mich? Findest du nicht auch, dass es ein herrliches Gefühl ist, wenn einem der Schnee ins
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