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Im Auftrag der Rache

Im Auftrag der Rache

Titel: Im Auftrag der Rache
Autoren: Col Buchanan
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erfüllt war, und sein Blick verlor sich in der Höhe des unsichtbaren Deckengewölbes, das sich Hunderte von Fuß über ihm erhob. Hier fühlte er sich wie auf dem Grund eines Brun nens. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das Meer kahl geschorener Häupter, die sich am Abend des Augere el Mhann versammelt hatten. Die hundert und aberhundert priesterlichen Würdenträger des Caucus lauschten andächtig den heiligen Worten von Nihilis, dem ersten Heiligen Patriarchen von Mhann.
    Ché wusste nicht, ob sie noch an diese Lehren glaubten oder das Konzept des Glaubens überhaupt respektierten, denn was war er am Ende anderes als der Blick auf die Welt, so wie man sie sehen wollte, gesteuert von persönlicher Erfahrung, Neigung und Meinung? Nur selten schien der Glaube an die Wahrheit heranzuführen, außer durch Zufall oder selbst erfüllende Prophezeiung; öfter führte er in Bereiche der Täuschung oder des engstirnigen Fanatismus.
    Lieber rief sich Ché die Anfangszeile aus Chunaskis verbotener Satire »Die Meereszigeuner« in Erinnerung: Der Glaube ist wie ein Darmausgang, denn jeder hat einen .
    Er verschränkte die Arme vor der Brust, trat von einem Bein auf das andere und lehnte sich gegen das kühle Mosaik der Wand. Es war ein langer Tag gewesen, und sein Ende war noch nicht in Sicht. Er wollte nur, dass es vorüber war, damit er nach Hause in seine Wohnung gehen und sich in der Annehmlichkeit seiner eigenen Gesellschaft entspannen konnte.
    Ché suchte nach dem Gesicht, das er heute Abend beobachten sollte. Die Versammlung der Priester füllte den Raum auf sieben dünnen, keilartigen Sitzreihen: fünf für je eine Stadt der Lanstrada, des Kerngebietes von Mhann mit Q’os in der Mitte, und die anderen beiden für die Regionen von Markesch und Ghazni an den Außenseiten. Der Mann, nach dem er Ausschau hielt – Deajit –, saß in der Fraktion der Stadt Skul im Kernland, einige Reihen hinter dem einzelnen Stuhl an der Spitze, auf dem Du Chulane, der Hohepriester von Skul, in abgeschiedener Stille thronte und auf das Podium vor ihm schaute. Ché konnte den Mann zunächst nicht finden, doch dann neigte einer der Priester vor ihm den Kopf und flüsterte seinem Nachbarn etwas ins Ohr, und nun sah Ché ihn deutlich. Der junge Priester hatte den Blick gesenkt und die Kapuze aufgesetzt. Entweder schlief er, oder er war in Kontemplation versunken.
    Ché seufzte und stellte sich noch etwas entspannter hin. Er fiel hier nicht weiter auf, denn am Rand des Raumes standen etliche niedere Priester zwischen den Akolytenwächtern, und andere schritten hin und wieder durch die Türen in der rückwärtigen Wand. Jedes Jahr kam der Caucus während der Woche des Augere an diesem Ort zusammen. Immer wurde die Versammlung nachts abgehalten, was eine Verbeugung vor den alten Gebräuchen von Mhann darstellte, als er nichts weiter gewesen war als ein geheimer städtischer Kult, der die G’osische Dynastie hatte stürzen wollen. Diese Veranstaltungen dauerten immer bis kurz vor Sonnenaufgang.
    Ein Grollen wie herannahender Donner: Hunderte Füße stampften, als die Predigt zum Ende kam. Die Würdenträger ergriffen die Gelegenheit und verließen ihre Sitze, um nach Erfrischungen Ausschau zu halten. Andere eilten herein. Deajit blieb sitzen, als ein neuer Sprecher ans Podium trat. Es war ein Mann, der sich als Steuereintreiber aus Skansk vorstellte. Deajit setzte sich aufrecht, als wäre sein Interesse neu entfacht.
    Der neue Sprecher stürzte sich in eine leidenschaftliche Erörterung über den Ernteausfall in Ghazni. Die erfolgreichen Jahre intensivster Landwirtschaft und übermäßig gedüngter Felder in den östlichen Regionen waren am Ende in einen Zusammenbruch der Produktivität gemündet. Der Sprecher betonte, dass es nötig sein werde, im neuen Jahr die Steuern zu erhöhen und die öffentlichen Ausgaben zu kürzen, damit die Staatseinnahmen gleich blieben. Das reichte aus, um erneutes Fußstampfen hervorzurufen.
    Ché bemerkte, dass er sich wieder geistesabwesend den Nacken kratzte, dicht unter dem rechten Ohr, wo ein schneller Puls schlug, der nicht sein eigener war. Es war die Pulsdrüse, die ihm in die Haut implantiert worden war und sich im Einklang mit der Drüse eines anderen Diplomaten irgendwo in diesem Raum befand. Mehrfach hatte er bereits die Gesichter der Priester studiert und sich gefragt, wer von ihnen es sein mochte oder ob es vielleicht sogar mehrere waren. Aber er konnte es nur herausfinden, wenn er an jede
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