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Ilium

Titel: Ilium
Autoren: Dan Simmons
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welcher dieser achäischen Helden ist das nicht? –‚ würde ich nicht viel auf meine Chancen geben.
    Scheiß drauf! Wie Achilles – oder vielleicht Zenturio Mep Ahoo – gern sagt: »Kein Mumm, kein Ruhm.«
    »Nightenhelser!«, rufe ich in den Wald. »Keith!«
    Trotz meines Gebrülls brauche ich eine Stunde, um ihn zu finden, und das gelingt mir auch nur, weil ich zufällig in das Indianerdorf auf einer Lichtung einen knappen Kilometer von meiner Ankunftsstelle entfernt hineinstolpere. In diesem Dorf gibt es keine Tipis, sondern nur roh zusammengezimmerte Hütten aus gebogenen Zweigen, Blättern und so etwas wie Grassoden. In der Mitte des aus sechs Wigwams bestehenden Dorfes brennt ein Lagerfeuer. Plötzlich bellen Hunde, Frauen schreien und schnappen sich ihre Kinder, und sechs männliche amerikanische Ureinwohner ziehen primitive Bogen, legen Pfeile ein und zielen auf mich.
    Ich ziehe meinen schönen Zederholzbogen, handgefertigt von Kunsthandwerkern im fernen Argos, lege in einer flüssigen, geübten Bewegung meinen schönen, handgefertigten Pfeil ein und ziele auf sie, bereit, sie alle mit einem Schuss in die Leber zu erledigen, während ihre albernen angespitzten Stöcke von meiner Rüstung abprallen. Sofern sie mich nicht ins Gesicht oder in die Augen treffen. Oder in den Hals. Oder …
    Der ehemalige Scholiker Nightenhelser, in die gleichen Tierfelle gekleidet wie die schlankeren Indianerkrieger, nimmt hastig zwischen uns Aufstellung und ruft den Männern unverständliche Silben zu. Die Indianer schauen mürrisch drein, senken jedoch ihre Bogen. Ich senke meinen.
    Nightenhelser kommt steifbeinig auf mich zu. »Himmelherrgott, Hockenberry, was machen Sie denn hier?«
    »Sie retten?«
    »Rühren Sie sich nicht«, befiehlt er. Er blafft den Männern weitere Silben entgegen und sagt dann auf Altgriechisch zu ihnen: »Und bitte wartet mit dem gebratenen Hund auf mich. Ich bin gleich zurück.«
    Er fasst mich am Ellbogen und geht mit mir zum Fluss, außer Sichtweite des Dorfes.
    »Griechisch?«, sage ich. »Gebratener Hund?«
    Er beantwortet nur den ersten Teil der Frage. »Ihre Sprache ist kompliziert, es fällt mir schwer, sie zu erlernen. Ich finde es leichter, ihnen Griechisch beizubringen.«
    Ich muss lachen, aber das liegt vor allem daran, dass ich plötzlich vor mir sehe, wie Archäologen in drei- oder viertausend Jahren dieses prähistorische Indianerdorf in Indiana ausgraben und Tonscherben mit eingeritzten griechischen Bildern aus dem trojanischen Krieg finden.
    »Was ist?«, fragt Nightenhelser.
    »Nichts.«
     
    Wir setzen uns auf ein paar nicht sonderlich bequeme Felsbrocken auf der anderen Seite des Flusses und unterhalten uns.
    »Wie läuft der Krieg?«, fragt Nightenhelser. Ich stelle fest, dass er abgenommen hat. Er sieht gesund und glücklich aus. Mir wird bewusst, dass ich so müde und schmutzig aussehen muss, wie ich mich fühle.
    »Welcher Krieg?«, frage ich. »Wir haben jetzt einen ganz neuen.«
    Nightenhelser, wortkarg wie immer, zieht die Augenbrauen hoch und wartet.
    Ich erzähle ihm ein bisschen vom letzten und größten Krieg, wobei ich einige der schlimmsten Dinge weglasse. Ich will vor meinem alten Scholikerkollegen nicht in Tränen ausbrechen oder zu zittern beginnen.
    Nightenhelser hört eine Weile zu und sagt dann: »Wollen Sie mich veräppeln?«
    »Ich veräpple Sie nicht. Würde ich so etwas erfinden? Könnte ich so etwas erfinden?«
    »Nein, da haben Sie Recht«, sagt er. »Dazu haben Sie nie die nötige Vorstellungskraft an den Tag gelegt.«
    Ich gehe wortlos darüber hinweg.
    »Was haben Sie nun vor?«, fragt Nightenhelser.
    Ich zuckte die Achseln. »Sie retten?«
    Nightenhelser lacht leise in sich hinein. »Es klingt, als müssten eher Sie gerettet werden als ich. Weshalb sollte ich in die Welt zurückkehren, die Sie mir gerade beschrieben haben?«
    »Berufliche Neugier?«, schlage ich vor.
    »Mein Fachgebiet war die Ilias«, sagt Nightenhelser. »Es hört sich so an, als hättet ihr das alles weit hinter euch gelassen.« Er schüttelt den Kopf und reibt sich die Wangen. »Wie kann irgendjemand den Olymp belagern?«
    »Achilles und Hektor haben eine Möglichkeit gefunden«, sage ich. »Ich muss wieder zurück. Wollen Sie mitkommen? Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich jemals wieder hierher qten kann.«
    Er schüttelt den Kopf. »Ich bleibe hier.«
    »Ihnen ist doch klar«, sage ich drängend und wechsle für den Fall, dass sein Englisch eingerostet ist, ins
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