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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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Ich nenne dafür nur ein neueres Beispiel, den ersten Satz von Wolfgang Koeppens Kurzroman »Jugend«. Er geht so: »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.« Wir erkennen sofort, was den Satz attraktiv macht: Er ist kurz und eng formuliert, er ist suggestiv, weil er den Sog einer Geschichte eröffnet. Und er dringt mit einem prägnanten Detail in die Psyche eines Menschen ein. Dennoch ist der Koeppen-Satz konventionell. Es ist seine Stärke, die ihn konventionell macht. Der Satz hat die Wirkung eines Theatervorhangs, der sich plötzlich hebt und den Blick freigibt auf eine komplizierte Konfliktdramaturgie. Der Satz stößt uns in eine sich durch ihn öffnende Szene. Prompt sind wir gespannt, wie der folgende Text den Konflikt darstellt – und, eventuell, löst. Genau diese Vorhersehbarkeit ist sein Klischee. Ich erzähle Ihnen von diesen Romananfängen, damit ich besser von den Eröffnungen der drei »Abschaffel«-Romane sprechen kann. Der erste Romananfang ist (im Sinne der Koeppen’schen Eröffnung) der am wenigsten überraschende. Er lautet: »Weil seine Lage unabänderlich war, musste Abschaffel arbeiten.« Wir stoßen hier – als hätte der Autor in einer professionellen Schreibwerkstatt »erste Sätze« schreiben gelernt – auf die Kompression eines Konflikts. Abschaffel, der Protagonist, ist ein Mitglied der Massengesellschaft; das heißt, er ist unvermögend, vermutlich chancenlos und vermutlich ungebildet. Es bleibt ihm nichts anderes, als durch millimetergenaue Anpassung zu überleben, und nun wollen wir sehen, ob und wie er diese Anpassung schafft. Der Eröffnungssatz des zweiten Bandes ist zurückhaltender. Er lautet: »Der Sommer kam, kein Zweifel, und Abschaffel bemerkte die Wärme.« Ich nähere mich damit dem Ideal des unaufgeregten ersten Satzes. Was uns erregt, erregt uns als etwas, das seine Erregtheit nicht schon durch sich selber vorwegnimmt. Anders gesagt: Das Unheimliche beginnt heimlich, das heißt: nicht gekennzeichnet, anonym, verwechselbar. Der erste Satz des dritten Bandes erreicht dieses Ziel, wie mir scheint, am sichersten. Er lautet: »Eine halbe Stunde vor Abfahrt seines Zuges war Abschaffel schon am Bahnhof.« Das ist ein erster Satz, der zahllose Wirklichkeiten gleichzeitig möglich macht. Wir können von ihm nicht mehr auf einen vorhersehbaren Romanverlauf oder gar auf dessen Ende spekulieren. Er ähnelt dem ersten Satz von Kertész’ »Roman eines Schicksallosen«: »Heute war ich nicht in der Schule.« Das kann der erste Satz eines Familienausflugs, einer Geburtstagsfeier, einer Beerdigung – oder (wie bei Kertész) eines beinahe tödlich endenden Anschlags werden.
    Besonders die Kracauersche Beobachtung der »Exotik des Alltags« ist das bis heute durchschlagendste Kennzeichen des Angestellten; die Exotik ist inzwischen signifikanter als zu Kracauers Zeiten. Gemeint ist damit – unter anderem –, dass dem Angestellten im Vergleich zu den dreißiger Jahren ein ungleich ausgefaltetes Freizeit-Angebot zur Verfügung steht, das der Angestellte zur Selbstverdunkelung seiner gesellschaftlichen Lage gern nutzt. Denn der Angestellte ist – im Gegensatz zum konventionellen Lohnarbeiter – eine vielfach gebrochene und daher komplexe Erscheinung. Der Proletarier ist aufgrund seiner mangelnden Ausstattung und seiner unterkomplexen Ansprüche leichter zu fassen und mit seiner gesellschaftlichen Rolle deswegen problemloser zu versöhnen. In den Biografien von Angestellten überwintern dagegen meist mehrere nur angefangene und später verstümmelte Biografieversuche, die durch unfreiwillige Abbrüche erst in die Existenz des Angestellten geführt haben. Mit anderen Worten: Der Proletarier hat in der Regel keine Chance, der proletarischen Laufbahn zu entkommen. Das macht ihn zwar insgesamt melancholischer, aber auch lebenslaufsicherer. Der Angestellte dagegen wollte keineswegs von Anfang an Angestellter werden, im Gegenteil. Er ist erst durch das Scheitern anderer, hochfliegender Pläne unfreiwillig ein Angestellter geworden. Durch diese Unfreiwilligkeit ist in seiner Psyche so etwas wie eine melancholische Renitenz entstanden. Renitenz heißt Vorbehalt beziehungsweise Reserve beziehungsweise Zurückhaltung beziehungsweise Verharrung. Melancholische Renitenz geht über das dauerhafte Beschweigen der Selbstbeschwichtigung zwar hinaus, erreicht aber keineswegs Formen des Protests und der Verweigerung. Insofern ist Abschaffel erheblich versteckter und äußerlich unscheinbarer als sein
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