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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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geführt, der gewiss nicht ganz unzulänglich, aber auch nicht allzu vielversprechend war. Sagen wir: ein Jugendwerk. Der Roman hieß »Laslinstraße« und wurde kaum beachtet. Nach seiner Veröffentlichung machte ich eine erste starke Erfahrung, die mehr biografisch als schriftstellerisch grundiert war: Für ein zweites Buch fiel mir nichts mehr ein. Ich überlegte und wartete und experimentierte: ein neuer Roman kam dabei nicht zustande. Das eigentlich Beunruhigende an dieser Erfahrung war, dass ich nicht mit ihr gerechnet hatte. Ich hatte mir in einer Art schöpferischem Grundvertrauen, das mir heute nicht mehr nachvollziehbar ist, eingebildet oder eingeredet oder phantasiert, dass der magische Entschluss, Schriftsteller werden zu wollen, auch schon der Garant für dessen materielle Grundlage sei. Wer also schreiben will, weiß immer schon, wovon der Text denn erzählen oder »handeln« solle. Dem war nicht so, und zwar über viele Jahre hin, in denen ich in einer halb verdutzten Verwirrung oder verwirrten Verdutztheit im textverarbeitenden Gewerbe arbeitete; ich trat eine Ausbildung zum Redakteur an, arbeitete einige Jahre bei Zeitungen und Zeitschriften, wurde dann freier Journalist – und näherte mich danach wieder der Literatur. Diesmal wählte ich einen pragmatischeren Weg, ich buk kleinere Brötchen, das heißt: ich schrieb kürzere Texte, die insofern auch einen Gebrauchswert hatten, weil sie sich durch passende Länge, formale Gestaltung und den Primat der Allgemeinverständlichkeit auch dazu eigneten, in den Medien verarbeitet zu werden. Ich rede vom Rundfunk, insbesondere vom Hörspiel und vom Feature. Dort gelang mir der Wiedereinstieg in die Literatur erstaunlich problemlos, schnell und, was die Honorare betrifft, existenzsichernd. Die segensreiche Wirkung des deutschen Rundfunks ist schon von vielen Autoren beschrieben worden, ich kann mich ihnen nur anschließen – und kann es deswegen kurz machen. Die Arbeit für den Rundfunk hatte für mich eine wunderbare Nebenwirkung, deren Nachhaltigkeit ich damals nicht erkannte. Sie erlaubte mir, sozusagen ohne Rücksicht auf Erfolg und Anerkennung, eine ruhige Entwicklung, ein gelassenes Sich-Umschauen nach dem, was man als immer noch junger Autor eigentlich schreiben könne.
    Die Lage der neuen Literatur zu Beginn der siebziger Jahre sah im damaligen Westdeutschland ungefähr so aus: Im Gefolge der Studenten-Unruhen erwarteten die schreibenden Intellektuellen eine früher oder später ausbrechende Revolution. Eine Revolution musste, so wollte es die marxistische Orthodoxie, vom arbeitenden Volk ausgehen, das heißt vom Proletariat. Also interessierten sich die schreibenden Intellektuellen für die Lage der arbeitenden Klasse. Ende der sechziger bis tief in die Mitte der siebziger Jahre erschienen immer neue Titel über das verlorene Klassenproblem als solches, das heißt über die erfolgreiche Eskamotierung des Klassenstandpunkts unter dem Einfluss des wachsenden Erfolgs der Konsumgesellschaft. Die Autoren waren der Meinung, dass den Arbeitern der Klassenstandpunkt im Austausch gegen die Segnungen der immer mächtiger werdenden Freizeitgesellschaft abhandengekommen war. Eine Gruppe der Arbeitswelt spielte in den Auseinandersetzungen der Gesellschaftsveränderer von Anfang an keine Rolle: die Großgruppe der Angestellten. Ich nenne sie eine Großgruppe, denn der Anteil der Angestellten an der Gesamtzahl der Arbeitenden war schon damals größer als der Anteil der Arbeiter. Das soll – unter anderem – auch heißen: die Gesamtgesellschaft wurde weit weniger, als damals noch angenommen, vom vorhandenen oder verlorenen Klassenproblem der Arbeiter beherrscht als von den schwerer wahrnehmbaren Seinslagen der Angestellten. Die Ausblendung der Angestellten war für mich als Autor ein stimulierender thematischer Faktor. Und weil ich mich damals als gesellschaftlich agierender Autor verstand, entschloss ich mich, nicht wie die vielen anderen Schriftsteller über das Leben der Arbeiter zu schreiben, sondern über die viel verhülltere Figur des Angestellten. Auf diese Weise entstand der Plan der Abschaffel-Romane. Er entstand freilich nicht nur aus gesellschaftlich relevanten Gründen, sondern auch aus autobiografischen. Ich erlitt als junger Mann – aus vielerlei Gründen, die auszuführen hier nicht der Platz ist – das Schicksal eines Schulversagers. Das heißt, ich musste als Siebzehnjähriger das Gymnasium verlassen – und landete ungeplant und vorzeitig
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