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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Autoren: Wilhelm Genazino
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im Berufsleben. Das heißt, ich begann unfreiwillig eine sogenannte kaufmännische Lehre, die sich über drei Jahre erstreckte. An diesem Punkt kommt eine bedeutsame gesellschaftliche Schaltstelle in den Blick, die bis heute auf die gleiche Weise funktioniert: Der Nachwuchs für die meisten Angestellten-Berufe fällt insofern vom Himmel, als sich die Kandidaten für diese Berufe aus den hohen Durchfall-Quoten des gymnasialen Bildungsganges rekrutieren. Ich habe diesen Zusammenhang aus Schulunglück, Berufswahl und Bürokratie im mittleren der drei »Abschaffel«-Romane, in »Die Vernichtung der Sorgen«, zur Sprache gebracht; ich lese Ihnen die Passage vor:
    »Es gab genug Angestellte aus (…) niedrig bewerteten Abteilungen, die den Drang hatten, in die Export- oder Importabteilungen zu gelangen. (…) Wer im Export oder Import war, musste die Mittlere Reife haben oder doch mindestens ein abgebrochener Gymnasiast sein, damit er ein einigermaßen sicheres Englisch vorweisen konnte (…) Abschaffel war zwar ein abgebrochener Gymnasiast und hatte ansehnliche Englisch-Kenntnisse, aber dennoch arbeitete er nicht in den favorisierten Abteilungen. Er wusste selbst nicht warum, und er überlegte auch nicht. Über Schulbildung (…) wurde unter den Angestellten nicht gesprochen. Zu viele verdankten ihr Leben als Angestellte einem Unglück in der Schule. Sie waren von ihren Eltern mit überschwenglichen Hoffnungen auf das Gymnasium geschickt worden, und irgendwann zwischen Obertertia und Obersekunda versagten ihre Leistungen; einige hatten eine Klasse wiederholt, andere wurden von ihren beleidigten Eltern gleich von der Schule genommen und, wie zur Strafe, zu den anderen in eine Lehre gesteckt wie in einen muffigen Sack, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Es gab bei Ajax nur zwei Angestellte mit Abitur und Studium, das waren seine beiden Referenten; sie gehörten zu den wenigen, die in ihrer Jugend zum richtigen Zeitpunkt Angst gehabt hatten und deswegen zum richtigen Zeitpunkt ihre Lektionen büffelten. Die vielen anderen, Abschaffel eingeschlossen, waren vorher von ihrer Angst verlassen worden, sie verhedderten sich in Phantasien über ihr Leben, die sich immer weiter von der Schule entfernten, bis sie eines Tages von der Schule, die doch eine ganz eng abgesteckte Leistung von ihnen verlangt hatte, ganz abgestoßen wurden. Tausende und Abertausende von Bürokräften hinter Schreibtischen, Schaltern und Theken lebten an ihrem eigenen, langsam verwesenden Schulunglück entlang, von dem sie einst heimgesucht wurden. Ohne die ewig nachrückenden Schulversager ließe sich nirgendwo eine Bürokratie errichten. Sie waren demütig, weil sie die bizarre Tragweite ihres Unglücks noch immer fürchteten, und sie waren schweigsam, weil sie wussten, eine wirkliche Verbesserung ihres Lebens hätte eine Austilgung ihres frühen Schulversagens zur Voraussetzung, und eben diese Austilgung war für immer unmöglich.«
    Jeder der drei »Abschaffel«-Romane hat ein Motto. Jedes Motto verweist auf einen literarischen Hintergrund, vor dem ich damals arbeitete. Das erste Motto ist ein Zitat aus einem Brief von Franz Kafka an seine Verlobte Felice Bauer; es lautet: »Die Stunden außerhalb des Bureaus fresse ich wie ein wildes Tier.« Das Motto des zweiten Bandes »Die Vernichtung der Sorgen« ist ein Satz von Robert Walser, den ich in seiner Erzählung »Helbings Geschichte« aus dem Jahre 1913 fand; der Satz lautet: »Ich bin einer der Vielen, und das gerade finde ich so seltsam.« Das Motto des dritten Bandes »Falsche Jahre« ist dem Essay »Langeweile« von Siegfried Kracauer entnommen: »Doch die Menschen bleiben ferne Bilder und am Horizont verzischt die große Passion.« Die Horizonte der drei Motti ergeben zusammen eine Art innere Topografie des Lebens des Angestellten Abschaffel. Alle drei Motti spiegeln beziehungsweise verarbeiten Illusionen, die ihre drei Autoren entweder selbst hatten oder die sie als Material an ihre Protagonisten weitergegeben haben. Die Autoren der drei Motti waren damals – und sie sind es heute noch – sozusagen literarische Statthalter des Angestellten-Themas, in deren Umkreis ich mich aufgenommen fühlen wollte. Siegfried Kracauer ist dabei besonders exponiert, weil er der Verfasser der ersten und lange Zeit einzigen soziologischen Studie über »Die Angestellten« ist, die 1930 erstmals erschien und damals erhebliches Aufsehen erregte. Gleich zu Beginn der Studie lesen wir die Sätze: »Hunderttausende von
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