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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
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waren sie froh über einen Arzt, und seine letzten beiden Kaninchen waren faulig und krank gewesen.
    Auf der anderen Seite war er ihnen in der Vergangenheit unfreundlich aus dem Weg gegangen. Und Freiheit war sein einziger wirklicher Besitz.
    Ein Hasenweibchen hing in einer der Fallen und zuckte schwach mit den Beinen, sein gefangener Hinterlauf war bis auf den Knochen aufgerissen. Seine Haut war ebenso mit Schwären bedeckt wie Wendovers eigene. Das Fell fiel in Fetzen ab, als er den Fuß aus der Schlinge aus Draht löste. Der Draht war einst die B-Seite einer Gibson Les Paul gewesen – er hatte die Gitarre während eines harten Winters zwei Jahre zuvor verbrannt. Er hatte nie versucht, darauf zu spielen. Der Hase starrte aus von grauem Star verschleierten braunen Augen zu ihm auf und rührte sich nicht. Wendover erkannte ein stummes Flehen in seinem Blick: ob um Leben oder Tod, er wußte es nicht.
    Dessen ungeachtet, brach er ihm den Hals und wich danach dem Blick aus. Er nahm den Hasen an den Ohren und sammelte den Rest der Fallen ein – alle leer –, dann lief er eine Meile weit bis zum Ufer des Kanals.
    Das schwarze, brackige Wasser stank. Siebzig Jahre unermüdlichen Grabens durch kleine, im Wasser lebende Nagetiere hatten aus dem Leinpfad einen weiten Morast gemacht, der ständig in Gefahr war, in großen Klumpen ins Wasser abzurutschen. Der Kanal war lange vor dem Zusammenbruch stillgelegt worden. Verdorrtes Schilfgras und Sumpfbinsen erstickten den Wasserlauf, und faulender, verkümmerter Weißdorn schloß ihn ein. Wendover hauste in einer Hütte, wenige Meter von einer versandeten Schleusenanlage entfernt; ein tiefer, unheilverkündender Kanal, wenig mehr als anderthalb Meter breit und gefüllt mit kohlegrauem Schlamm.
    Sein Geruch sicherte seine Abgeschiedenheit; die Dorfbewohner hatten abergläubische Furcht vor schlechten Gerüchten, vielleicht, weil sie sie in Verbindung brachten mit den stinkenden Städten während der Zeit der Pestepidemien, die auf den Bürgerkrieg folgten; einige von ihnen glaubten, daß er als Arzt auf wunderbare Weise verschont bleibe von den Fiebern des Kanalgebietes. Sie ließen ihn in Ruhe. Er hatte bereits etwas von dem Schein der Unantastbarkeit des Stammesschamanen.
    Im Inneren der Hütte war es heiß und unglaublich unordentlich. Der Zementfußboden von ungefähr einhundertfünfzig Metern im Quadrat trug sein zusammenbrechendes Bett, einen alten, schwarzen Allesbrenner und seine Sammlung.
    Staub ansammelnd, ein Querschnitt durch ein verhülltes Zeitalter: eine Polaroidkamera; siebenundzwanzig Kapseln Penicillin V in einer Plastikphiole; die Photographie einer ölverklebten Seemöwe; ein Farbfernseher; eine 1:96 Nachbildung einer Apollo-Kontrolleinheit aus Polystyrol; ein Gummiknüppel; ein schimmeliger Stapel von Schundheften; eine Photographie von J.G. Ballard; ein aufgerolltes Werbeplakat für Intimdeodorant; eine Obstpresse; eine in Saffianleder gebundene Ausgabe des Gestütkalenders; ein signiertes Photo von Che Guevara; ein Täschchen mit Verhütungspillen; ein 800-Watt-Verstärker. Ein Ramschladen mit einem Wust von kaputten Möbelstücken, staubigen Büchern und elektrischen Geräten, die nie wieder benutzt werden würden.
    Wendover dachte verdrießlich darüber nach. Er hatte die Sammlung vor Jahren begonnen, angetrieben von einem Drang zu horten, den er nicht verstand. Er wurde, fast aus eigener Kraft, immer größer.
    Manchmal genoß er die feine Ironie, die darin lag: Vor dreißig Jahren hatte er sich für frei gehalten, jetzt lebte er in nostalgischer Betäubtheit.
    Er warf die Fallen zu dem anderen Plunder, kauerte sich unbeholfen am Herd nieder und begann, den Hasen zu häuten. Er murmelte vor sich hin. Sein Gaumen schmerzte.
    Er versuchte seit einer halben Stunde, das Tier zu essen, als jemand gegen die Tür hämmerte.
    Er gab den ungleichen Kampf sofort auf, froh, daß er eine Entschuldigung hatte, mit Kauen aufzuhören und den Todeskampf seiner wackeligen Zähne zu erleichtern. Er nahm die große Smith & Wesson aus ihrer Keksdose unter dem miesen Bett. Das Hämmern wurde lauter, als er die Waffe in die Manteltasche gleiten ließ. Eine Hand am Revolver, öffnete er die Tür einige Zentimeter weit und lugte hinaus.
    Augenblicklich wurde ihm der Griff aus der Hand gerissen.
    Die Tür flog auf, schmetterte gegen sein Schlüsselbein und warf ihn mit betäubtem Revolverarm taumelnd zurück. Er blieb mit der Ferse in dem herunterhängenden Kabel einer
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