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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
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Zerstörung, die sich unter ihm ausbreitete. Sein wunder, zahnloser Gaumen schmerzte empfindlich. Der Wind zerrte mit Bosheit und Hartnäckigkeit an ihm.
    Er war noch kein alter Mann. Die Augen, die tief in sein knochiges, mit Geschwüren bedecktes Gesicht eingesunken waren, strahlten noch immer eine gewisse Jugend des Geistes aus. Seine hängenden Schultern unter dem schäbigen Gabardin waren kein Zeichen des Alters, sondern Zeugen einer unerträglichen Erschöpfung. Und er war nicht zerbrechlich: Sein schmaler Körper hatte in drei Jahrzehnten des Umherstreunens eine ausgeprägte, zähe Ausdauer erlangt. Schwielen bedeckten seine Handflächen und seine Persönlichkeit.
    Vanessa verfolgte ihn jetzt nur noch selten. Durch das Drängen seiner Umgebung aus seinem erwachenden Geist vertrieben, beschränkte sie ihr flüchtiges Erscheinen auf seine Träume, in denen ihr Gesicht im Zugriff einer unerklärlichen Leidenschaft über ihm schwebte: die Haut glatt, die Augen halb geschlossen.
    Er klammerte sich dann an sie, Hitze stieg in seine alten, kalten Lenden, und ihr Gesicht begann zu bluten, die wunderbare Haut brach auf in Schwären oder schälte sich wie die Schale einer Orange, um das vollkommen weiße Skelett, das innerliche Grinsen, freizulegen. Und er fuhr schaudernd aus dem Schlaf auf und fand Zuflucht von der Vision in dem behaglichen Schmutz, der ihn umgab; im Geruch seines Körpers und dem Schmerz in seinem Kiefer. Manchmal ertappte er sich beim Aufwachen dabei, daß er sich selbst Zärtlichkeiten zuflüsterte. Dann konnte er sie den ganzen Tag über im Gedächtnis behalten, ließ sie im Mund kreisen. Aber am nächsten Tag waren sie verschwunden, und selbst die Erinnerung daran war fort.
    Er beklagte den Tod der Straße fast auf die gleiche Weise, wie er die Tode beklagt hatte, die die Straße selbst in kobaltblauen Morgendämmerungen eine Generation zuvor verursacht hatte.
    Trostlose Öde erwiderte seinen Blick. Dreißig Winter hatten die Oberfläche der Straße gesprengt und mit Rissen überzogen wie von der Sonne ausgetrocknete Erde. Grasbüschel, die sich durch die Ritzen drängten, hatten sie in ein überwuchertes Puzzle verwandelt. Hier und da hatten Stockrosen Wurzeln gefaßt. Eine junge Ulme sproß aus dem Mittelstreifen. Die gesamte Vegetation war fahl, verkrüppelt, krebszerfressen. Aber kraftvoll, dachte Wendover, eine solche Verwüstung in so kurzer Zeit anzurichten.
    Der Zaun hing in rostigen Girlanden von den schlanken, phallischen Pfeilern; wie ein zum Trocknen aufgehängtes Fischernetz. So weit er sehen konnte, war keiner der Pfosten beschädigt; sie marschierten wie zwei Kiellinien bis zu den Grenzen des Gesichtsfeldes, und jede trug ihr zerfetztes Spinngewebe hinter sich her. Alptraumbräute mit eisernen Schleiern.
    In dieser Gegend waren die meisten Überführungen noch unversehrt, aber Wendovers bevorzugter Standpunkt war während des Vernichtungskrieges, der zu der Unterregionalregierung geführt hatte, von einer zerstörungswütigen trotzkistischen Splitterpartei unterminiert worden. Riesige Brocken von Stahlbeton mit Borten und Verbindungen aus verbogenem Stahl blockierten die Autobahn.
    Zwischen dem Unkraut lagen Haufen von gelblichem Unrat und rissigem Gummi verstreut – die rostigen und zerfallenden Wracks von schweren Turbotransportern und Privatwagen: Sie bezeugten den Zusammenbruch eines Gesellschaftssystems, das ebensogut ein Traum hätte sein können.
    Selbst jetzt zeigte sein Verstand Zeichen des Widerstandes, der Wahrheit ins Auge zu sehen. Er war ein Gast, der zu lange geblieben war, er war nicht willkommen. Er ertappte sich dabei, wie er wieder in das bittere Vergnügen der Träumerei hinüberglitt, und um eine erneute Flucht in die Vergangenheit zu verhindern, zwang er sich, die Überführung zu verlassen. Er fürchtete, daß seine wachsende Suche nach Zuflucht im Opium der Erinnerung den kurzen raschen Abstieg zu Senilität und Tod ankündigte. Er wollte nicht in dieser Welt sterben.
    Auf einer Böschung aus zerbröckeltem Beton und verrottetem Stahl hinuntergleitend, suchte er sich vorsichtig einen Weg zur alten Umgehungsstraße und ging, seine Fallen zu untersuchen. Trotz der Schmerzen in seinem Mund konnte er nicht verhindern, daß ihm bei dem Gedanken an Nahrung das Wasser im Munde zusammenlief. Er fragte sich flüchtig, ob es jetzt an der Zeit sei, sich der Zinnhausgesellschaft anzuschließen: jetzt, bevor er zu alt wurde, um für sich selbst zu sorgen. Vielleicht
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