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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
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Dringlichkeit erfüllte ihn. Es blieb sehr wenig Zeit, Schlafzimmerszenen zu spielen.
    Sie sagte: »Ich bin wach geblieben und habe auf dich gewartet, aber du bist nicht nach Hause gekommen.«
    Wieder die einfache, geduldige Anklage. Sie hatte sich wieder dem Reinigungstuch zugewandt und wischte mit langen Strichen über eine Wange. Ihre Hand war ruhig. Es waren nur einleitende Übungen.
    »Ich bin spazierengegangen, Vanessa. Ich verkaufe die Praxis. Ich habe mich letzte Nacht entschlossen. Sie wird keine Bedeutung haben, wenn der Zusammenbruch kommt. Es ist besser, wenn ich es jetzt in harter Währung habe.«
    Schweigen folgte. Aus dem Gleichgewicht gebracht, versuchte sie, die Neuigkeit zu verdauen.
    Sie hatten schon zuvor darüber gesprochen. Natürlich befand sich alles im Zustand der Auflösung: Es würde wesentlich sicherer sein, leicht einlösbare Vermögenswerte zu besitzen, während das Land die unvermeidbare Periode des politischen und ökonomischen Chaos durchlief. Aber Vanessa brauchte die Begleiterscheinungen der Zeit ebenso notwendig, wie sie ihren Körper brauchte und wahrscheinlich aus denselben Gründen.
    »Clement, wann wirst du endlich erwachsen?«
    Ein gekünsteltes Lachen. Sie hatte Maß genommen.
    »Geh und schlaf ein wenig, Liebling. Du hast um neun Uhr Sprechstunde. Bitte, versuch es ein einziges Mal vernünftig zu betrachten: Wenn du keine pickeligen Bauernmädchen mit Menstruationsbeschwerden behandeln willst, dann laß es bleiben; aber du mußt dir eine bessere Erklärung einfallen lassen als das. Eine ehrliche. Wenn dieser Unsinn vorüber ist, wirst du wie ein unglaublicher Narr dastehen …«
    Sie drehte sich um, um ihn anzusehen, und verschränkte die Arme unter der Brust, so daß der Brustansatz deutlich hervortrat. Es war schlechte Taktik. Er stellte fest, daß er das Bild ihrer Schultern im Spiegel tatsächlich befremdet betrachtete. Er stand auf und ging zur Tür.
    »Darüber sind wir hinaus, Vanessa. Folge deinem eigenen Rat. Du versteckst dich hinter einem Begriff von Leben, der seit zehn Jahren überholt ist. Das System bricht in Stücke. Alles verändert sich, und wir brauchen das Geld, solange es noch Kaufkraft besitzt. Es nützt uns nichts, wenn wir an die Praxis gebunden sind. Wir brauchen jetzt eine andere Art von Sicherheit; in ein paar Jahren werden wir ziellos herumtreiben; ein wenig Vorsorge könnte uns von ungeheurem Nutzen sein. Lebensmittel-Vorräte …«
    Aber sie hörte ihm nicht zu. Das rosafarbene Reinigungstuch flüsterte an ihrer Haut. Seine Stimme wurde härter, aber er erwartete kaum, durchzudringen.
    »Wir müssen irgendwo hin fortgehen und es überstehen. Wenn den Menschen klar wird, daß dies das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist, werden sie explodieren. Du wirst lernen müssen, auszukommen ohne Gesichts …«
    »Oh, um Himmels willen, Clement! Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin? Geh zu Bett, geh zum Teufel, wohin du willst, nur laß mich in Ruhe!«
    Sie steigerte sich gleichmäßig zu einem Crescendo auf Ruhe. Im Spiegel zuckte ihr Gesicht und verzerrte sich, rote Flecke bildeten sich auf ihren Wangen. Das Glas war mit kleinen Speicheltröpfchen gesprenkelt.
    »Es ist die Wahrheit, Vanessa. Du kannst es nicht fortschreien.« Auf dem Weg zur Küche stampfte er heftig auf. »Und hör auf, dir im Gesicht herumzuschmieren. Wenn die Geschwüre auftauchen, kannst du überhaupt nichts dagegen tun. Und du kannst es nicht verhindern.«
    Eskapistin, dachte er. Verfluchte Eskapistin.
    In der Küche zog er den nassen Regenmantel aus, zündete sich eine Zigarette an und schickte sich an, sich eine Tasse Kaffee zu machen. Zuflucht in der Häuslichkeit. Der Kaffeefilter murmelte vor sich hin. Er betrachtete sein stoppeliges hohläugiges Gesicht in dem Spiegel, den sie über dem Spülbecken angebracht hatte; es erwiderte seinen Blick fragend; er hatte nie zuvor Spaß daran gefunden, sie zu verletzen. Noch war es ihm jemals so gut gelungen. Man lebt mit jemandem zusammen, und er ist offen für dich. Bettvertrautheiten als Waffen. Das Schluchzen, das aus dem Schlafzimmer drang, wechselte von Selbstmitleid zu echtem Kummer, vorausgesetzt, daß das einen Unterschied macht. Vanessa war im Begriff, ihre Parameter zu verlieren.
    Es gelang ihm, das Geräusch ein paar Minuten lang zu überhören, indem er seine Hände über dem Filter wärmte und an die kalten Klänge der Räumfahrzeuge dachte. Dann trug er zwei Tassen Kaffee in das Schlafzimmer.
    Sie war über einem
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