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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
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Todesfälle.
    Sie befanden sich auf Vanessas Gebiet. Obwohl Wendover von keinem der bekannten Gerüchte etwas hielt – daß die Biochemiker ein wirksames Serum hatten, an das sie sich wie Dämonen klammerten (mit den fadenscheinigsten Begründungen); daß das gesamte Forschungsbemühen in Wirklichkeit ein Deckmantel für ein gewaltiges Chromosomenmanipulationsprogramm war (ein Projekt, das von den staatlichen Frauenkliniken durchgeführt wurde, mit dem Ziel, die erste Generation einer reinrassigen Mutation hervorzubringen, die fähig war, eine sehr hohe Strahlendosis zu verkraften); daß sie in Wirklichkeit den Ausbruch verursacht hatten und ihn auf seinem Weg begleiteten (mit weiteren unbestimmten Begründungen) –, erwartete er nichts. Es war ein galvanischer Fehlschlag. Der Frosch blieb kalt.
    Kurz darauf begann die Stille ihn zu ärgern. Er stand auf und durchstreifte die kahlen Räume und hielt erst inne, als ihm klar wurde, daß er nach einer Nachricht oder einem Brief, irgendeiner endgültigen Erklärung von Vanessas Seite Ausschau gehalten hatte. Es war nichts da. Ein kleiner, verräterischer Bruchteil von Bedauern stahl sich in seinen Schädel. Er war hungrig, aber die Betäubung begann nachzulassen und überließ ihn seinem Schicksal, ausgeliefert und verletzt, unzureichend ausgerüstet, um mit gewöhnlichen Ereignissen und Anfechtungen fertig zu werden.
    Die Türglocke läutete. Hinter der Milchglasscheibe der Eingangstür erkannte er eine große, massige Gestalt, die in dem hellen Lichtkegel der Türlaterne unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat. Also nicht Vanessa. (Unter den gegebenen Umständen war der Gedanke unlogisch: Vanessa hatte einen zu ausgeprägten Sinn für Dramatik, um ihren Auftritt dadurch zu verderben, daß sie, wenn überhaupt, zu früh zurückkehrte. Ein Brief vielleicht, wenn sie ihren Schritt bedauerte, oder ein Anruf; zögernde Aussöhnungsmanöver.)
    Eine Welle von Frost wirbelte in die Eingangshalle und schlug über ihm zusammen. Der Mann auf der Schwelle trug den gelben Helm des Räumtrupps. Hinter ihm standen die Sterne als grelle Lichtpunkte über den Flußwiesen. Er schlug die Hände aneinander und pfiff dünn. Sein Atem dampfte.
    »Es hat einen Unfall gegeben«, sagte er.
    Die Kälte hatte sein Gesicht in eine Schablone des Beileids geprägt. Er scharrte mit den Füßen, schniefte und wischte sich mit dem Ärmel seiner Arbeitsjacke die Nase.
    Welcher Art auch immer die Betäubung war, die Wendovers Nerven beschwichtigte, ihre Wirkung war von kurzer Dauer: Er spürte, wie sie ihn verließ und seinen Verstand entblättert und roh bloßlegte, ihn der Eiseskälte der wirklichen Realität auslieferte. Gewohnheitsmäßiges Mitgefühl in den Augen des Mannes. Er machte das jeden Tag und gab sich sicher große Mühe. Eine unglaubliche Schärfe der Wahrnehmung zeigte ihm jede Linie im Gesicht des Mannes, erklärte jede Bewegung seines Kopfes. Schmerz überflutete ihn. Bilder der Zerstörung gaukelten vor seinen Augen: Fleisch, das von den Knochen brodelte, Ströme von brennendem Turbinentreibstoff, zerfetztes Metall, das in die Nacht hinausgeschleudert wurde. Selbstmordgefährdeten sollte der Besitz einer Fahrerlaubnis untersagt sein. Du solltest mich besser nehmen. Er sah ihre Glieder zerschmettert und ihren Kopf zerfetzt bis auf die Hirnschale. Er sah nichts.
    Das Wort »Unfall« ist eine Verniedlichung. So kalte Worte.
    Er sah den Mann vom Räumtrupp an und sagte sehr bedächtig: »Ich weiß.«
    Der Mann schnappte nach Luft. Er eilte an ihm vorüber und lief ohne Mantel in die kalte Nacht hinein.
    Als er an der Brüstung der Überführung lehnte und zusah, wie die todbringenden Wagen in den schlaftrunkenen Stunden des frühen Morgens vorüberbrummten, fühlte er Schuld in seinen Kopf geschrieben wie das krakelige, unleserliche Gekritzel auf einem Totenschein.
    Zu dieser Zeit dehnte sich die Straße fort in die Zukunft.

 
I
DIE HASENFALLE
     
    Einige Zeit später entfalteten sich seine Hände langsam und unbeholfen. Er streifte die mannigfaltigen Hüllen der Selbsttäuschung ab, gestand, sich ein, daß dreißig karge, widerwärtige Jahre in seinem Geist und in seiner Welt ihre unauslöschlichen Zeichen hinterlassen hatten, und zwang sich, der unabwendbaren Gegenwart ins Auge zu sehen …
    Clement St. John Wendover – irgendwann Arzt und Weltmann einer verlassenen Zeit – stand an der Auffahrt einer zerschmetterten Überführung und betrachtete hoffnungslos die
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