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Himmelskinder

Himmelskinder

Titel: Himmelskinder
Autoren: Marion Feldhausen
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Prolog
    Es hätte ein Paradies sein können. Weder Aldi noch Schlecker, keine Kneipe, keine Tankstelle. Nichts von alledem. Ein Ort in der Nähe von Breckede an der Elbe, im Nirgendwo.
    Die Häuser haben allerdings schon lange keine Farbe mehr gesehen, und über die Straßen müssen viele strenge Winter gegangen sein. Sie sind in einem schlimmen Zustand.
    Und die Menschen? Die Jungen haben sich längst davongemacht, die Alten harren aus. Sie leben vor allem von der Sozialhilfe. Obst und Gemüse kommen aus den eigenen Gärten. Wenige, die sich ein Schwein oder Hühner halten können. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.
    Heute, an diesem regnerischen Sonntagmorgen, zeigt sich das Dorf einmal mehr wie ausgestorben. Selbst auf der L 219, die durch den Ort führt, herrscht kaum Verkehr. Die Zweige der alten Linden rechts und links der Landstraße treffen in der Mitte aufeinander und bilden einen grünen Tunnel. Hier wird niemand auf die Idee kommen, die Bäume zu fällen, um die wenig befahrene Straße zu erweitern und dann etwas von Sachzwängen zu faseln. Andererseits – was weiß man? Gibt es noch Orte, wo Politik und Wirtschaft keine heilige Allianz bilden?
    Jedenfalls zweigen von hier zu jeder Seite vier oder fünf Straßen ab, die sich wieder in kleine Gässchen verlieren.
    Eine der Gassen verlässt den Ort und führt über brachliegende Felder einen See entlang in ein Waldgebiet. Im Übergang zu diesem Wald befindet sich ein alter Gutshof mit mehreren Gebäuden, die zum größeren Teil verfallen sind. Lediglich das ehemalige Hauptgebäude kann mit gutem Willen als bewohnbar bezeichnet werden, das Dach ist regendicht, ebenso Fenster und Türen.
    Der Hof ist umgeben von einer mannshohen Steinmauer, die an mehreren Stellen beschädigt ist. Bis auf Vögel und anderes kleines Getier war das Areal jahrelang verlassen gewesen. Seit Mitte letzten Jahres ist nun ein Kommen und Gehen zu beobachten. Lastwagen, die irgendwelche Waren bringen oder holen, Männer, die die Außenmauer reparieren und die großen Holztore in Ordnung bringen. Gerade hält ein Sprinter mit polnischem Kennzeichen auf dem Kiesvorplatz. Ein Mann steigt aus, um das Tor so weit zu öffnen, dass der Wagen passieren kann. Sofort wird das Tor wieder geschlossen. Kein Laut von dem, was im Innenhof geschehen mag, dringt nach außen.
    Im Haupthaus in einem der Dachzimmer liegt ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren auf einer Matratze unter zwei, drei Wolldecken. Es scheint zu frieren. Ängstlich hört es auf Geräusche, die aus dem Hausinneren zu ihm dringen. Als die Tür aufgeschlossen wird, erschrickt es, schaut nicht auf.
    »Zieh das hier an«, sagt die Frau, die in das Zimmer tritt. Sie wirft ein silbern glänzendes Kleid auf den Stuhl, der neben einem zirka zwei Meter hohen Standspiegel steht.
    »Schmier dir ordentlich was ins Gesicht; du siehst wie eine Vogelscheuche aus.«
    Die Frau kommt und zwingt das Mädchen, ihr in die Augen zu gucken. Dann greift sie nach seiner Hand und lässt sie wieder fallen. Sie scheint zufrieden und geht zur Tür.
    »In zehn Minuten, du und Nummer drei!«
    Sie schließt nicht wieder ab.
    Gestern hat ihr die Frau die wenigen Schamhaare mit einer Pinzette gezupft, so grob, dass es richtig wehgetan hat.
    Die Kleine prüft, ob die Haut immer noch gerötet ist. Dann kann man sie vielleicht nicht brauchen da unten. Aber die Haut hat sich wieder beruhigt.
    Sie steht auf, sie zittert und muss sich an der Wand festhalten. Dann trinkt sie aus einer Plastikflasche Wasser, bevor sie sich das Kleid über den nackten Körper streift und in schwarze Schuhe mit grotesk hohen Absätzen schlüpft. Als sie die Knöchelriemchen schließen will, knickt sie mit einem Fuß um und fällt auf die Matratze. Sie setzt sich, wartet, bis der Schmerz nachlässt, und schließt die Riemchen.
    Dann öffnet sie die Tube mit Make-up und trägt die Creme auf die blasse Haut ihres kleinen Gesichts. Um die Augen malt sie einen dicken schwarzen Rand, aus ihrem Mund wird eine klaffende Wunde. Als sie fertig ist, erinnert sie an einen traurigen Clown. Kurze blonde Locken verstärken den Eindruck noch.
    Als die Frau klopft, hat sie schon an der Tür gestanden und geht auf den Flur. Draußen wartet Nummer drei, bei ihr kann auch die dicke Schicht Make-up nicht darüber hinwegtäuschen, dass es dem Kind nicht gut geht. Sie gehen zusammen die Treppe hinunter, wegen der Schuhe müssen sie sich am Geländer festhalten.
    »Heul nicht, wenn dich der Blonde
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