Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
Fähigkeiten wachgerufen. Eine Wärmeströmung in Brusthöhe hielt ihn unheimlich am Boden. Die Zufahrtsstraßen ragten daraus hervor wie Rampen aus einer fremdartigen See, und in dem seichten Gewässer lagen zertrümmerte Fahrzeuge.
    Der Mond ging leuchtend auf, es war noch ein Tag bis zum Vorabend. Vom Nebel zurückgeworfen, enthüllte sein Licht bemerkenswerte Einzelheiten und verlieh ihm einen Schatten. Langeweile trieb ihn, seine Umgebung zu beobachten, und er konnte die Erinnerungen nicht unterdrücken. Der Himmel war wolkenlos.
    Arm kam pfeifend die Umgehungsstraße vom Dorf herauf. Er tauchte Stück für Stück mit der Steigung der Rampe aus dem Meer, wurde auf ektoplasmische Weise größer: ein losgelöster Torso, Hüften, dann lange Beine. Er hielt unterhalb des Arztes auf einer ansteigenden Zufahrtsspirale inne, stützte sich auf die niedrige Leitplanke und blickte in den Nebel hinunter. Er hantierte an seiner Kleidung, erleichterte sich in die Weite hinaus und stieg dann ohne Hast den Hang hinauf. Die letzte Kurve verdeckte ihn, brachte ihn auf Wendovers Ebene. Als er wieder auftauchte, war er sehr nah und pfiff noch immer, und er war ein vollkommen Fremder.
    Wendover zog scharf die Luft ein und füllte seinen schmerzenden Mund mit Kälte. Er legte die Pistole in der Manteltasche an.
    Der Mann war groß und hermaphroditisch. Er trug leuchtend blaue Hosen, ein weißes Hemd mit Spitzenrüschen am Kragen und an den Ärmelaufschlägen und eine flaschengrüne Jacke, die im Mondschein zu beige verblich. Alle Farben waren unbewiesene Theorie.
    Schwere Ringe glitzerten an seinen Fingern, und sein langes Gesicht schien vollkommen frei von Krebsspuren. Sein schulterlanges schwarzes Haar war mit einem weißen Band zusammengebunden. Er hatte einen strähnigen kleinen Bart. Seine Füße waren nackt. Seine Melodie hatte drei Töne.
    Auf dem Rücken trug er ein dunkles Bündel.
    Er hielt mit Pfeifen inne, als er Wendover erblickte. Er lächelte.
    »Hier finde ich also jemanden«, sagte er mit einer Stimme, die merkwürdig frei von Akzent war.
    Er machte keine hastigen Bewegungen.
    »Sie haben nicht zufällig ein Streichholz?«
    Verblüfft ließ Wendover die Smith & Wesson los.
    »Nein – ich – ich habe meine Tasche verloren.«
    »Oh.«
    Er sah enttäuscht aus.
    Er legte sein Bündel ab, lehnte sich gesellig neben Wendovers Ellbogen an die Brüstung und schaute zum Mond hinauf. Ihm schien nicht kalt zu sein in seiner dünnen Jacke. Er fuhr fort, seine eintönige Melodie zu pfeifen. Nach einer Weile sagte er:
    »Nun, es ist eine blöde Sache, nicht wahr?«
    Er nahm sein Bündel auf, rückte einen Lederriemen zurecht und schob ihn über die Schulter. Sein Blick war mild, undurchschaubar. Er lächelte. Er ging nach Norden davon und watete zurück in das Meer, seine entschlossenen Schritte brachten ihn schnell voran. Er verschwand zwischen den Wracks.
     
    *
     
    Eine Stunde später erschien, die Waffe im Anschlag, der richtige Arm. Sein Gesicht und seine Hände waren verschmutzt. Er strahlte gezügelte Tatkraft aus. Wendover, dessen Nerven bloßlagen und zum Zerreißen gespannt waren, griff nach der Pistole, obgleich er den Zwerg erkannt hatte. Eine Hand schloß sich fest um seinen Arm.
    »Beruhigen Sie sich«, sagte Arm. »Keine Schwierigkeiten?«
    »Nein«, sagte Wendover, der sich töricht vorkam, »eigentlich nicht.«
    Der Zwerg ließ seinen Arm los und sah sich um. »Ziemlich ungeschützt hier oben. Nicht, daß es viel ausmachen würde, vermute ich.« Er deutete mit dem Maschinengewehr auf die nördlich führende Autobahn. »Was wir suchen müssen, ist ein Lastwagen, den ich heute morgen dort entdeckt habe. Ich weiß nicht genau, wo er steht.«
    Er setzte sich steifbeinig in Bewegung.
    Wendover holte ihn ein und fragte: »Was geschieht jetzt?« Seine eigene Stimme, müde und piepsig, überraschte ihn.
    »Nun ja. Ich war im Dorf und habe herumgeschnüffelt. Es geht ihnen noch gut. Sie hat sie in die Kirche gebracht.« Er räusperte sich theatralisch und spuckte aus.
    »Warum hast du verlangt, daß ich mich fernhalte?« fragte Wendover anklagend, aber er war eher erleichtert als verletzt. Arm sah mit einem Ausdruck der Verwunderung zu ihm auf, sein geschwärztes Gesicht, seine runden, weißen Augäpfel verzerrten seinen Gesichtsausdruck ins Übertriebene.
    »Aber Sie hätten doch alles verdorben. Herumzukriechen ist nicht das richtige in Ihrem Alter, geben Sie es zu.«
    »Du wirst überheblich.«
    »Es war ein Scherz.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher