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Ich will meinen Mord

Ich will meinen Mord

Titel: Ich will meinen Mord
Autoren: Birgit Vanderbeke
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Opfer verweigert, indem es darauf verweist, daß es durch die Gangtür angeblich ziehe, was indes die Angeklagte (Fensterplatz) nicht wahrgenommen haben will; aus Höflichkeit, so die Angeklagte, habe sie eingewilligt, mit blickdicht geschlossener Gangtür weiterzureisen. Ein Gespräch über die notorisch unter- oder überheizten Züge zwischen Montpellier und Metz sei zunächst reiseüblich verlaufen wie auch die wechselseitige Erkundigung nach den Reisezielen. Das spätere Opfer habe wahrheitswidrig behauptet: Thionville, wahrheitswidrig nämlich insofern, als die Fahrkarte erster Klasse, die man nach seinem Tod in der linken Jackentasche fand, über Dijon ausgestellt war nach Besançon und der diensthabende Schaffner bezeugen wird, daß auf seinen Hinweis, der Anschlußzug stünde auf dem Gleis gegenüber, das spätere Opfer geantwortet habe, danke, ich weiß. Die Tatsache, daß ein Passagier, der im Besitz einer Fahrkarte erster Klasse ist, in einem Abteil der zweiten Klasse reist, in einem nach eigenem Bekunden zugigen und unterkühlten Abteil zweiter Klasse, macht ihn natürlich verdächtig und steigert somit die Glaubwürdigkeit meiner Aussagen, das ist meinem Verteidiger klar, weshalb er besonders auf den Schaffner im Zeugenstand hofft, der unglücklicherweise zum Zeitpunkt des Prozesses dann doch nicht persönlich aussagen kann, weil seine Frau wegen einer Zwölffingerdarmsache am Vortag mit Blaulicht ins Krankenhaus mußte; ein Attest sowie eine schriftliche Zeugenaussage werden dem Gericht zugestellt, was aber natürlich die Anwesenheit des Schaffners auch dann nicht ersetzt, wenn dieser inzwischen durch die bedenkliche Diät seiner korsischen Frau jede gutartige Leibesfülle verloren hat; allein seine freundliche Glatze würde im Gerichtssaal zu meinen Gunsten sprechen und den Eindruck von Ordnung und Sicherheit verbreiten, gegen die das Opfer abgründig verstoßen hat durch den Kauf einer Erste-Klasse-Fahrkarte nach Besançon anstelle einer nach Thionville in der zweiten Klasse.
    Natürlich könnte ich es hinschreiben, und es wäre passiert: Kurz vor Mâcon habe ich Viszman getötet.
    Nur wäre das einer so schwerwiegenden Angelegenheit wie einem Mord nicht angemessen, und außerdem könnte es vor Gericht gegen mich verwendet werden, selbst wenn ich die ganze Geschichte umschriebe, Viszman umbenenne in Minck, die Schweizerinnen zu Holländerinnen mache durch entsprechende geringfügige Veränderungen der Familien- und Urlaubsverhältnisse, den Zug von Budapest nach Berlin fahren lasse. Selbst dann bliebe die Aussage: Ich habe Minck kurz vor der Grenze getötet, und kein Gericht der Welt wird daran zweifeln, daß Minck nicht Minck, sondern Viszman ist.
    Die Tatsache, daß dieser Satz dastünde und vor Gericht verlesen würde, wäre nun freilich an sich noch kein Einwand gegen meinen Verteidiger, der unbeirrbar auf Notwehr plädiert, aber die weitere Geschichte würde wenig Indizien für Notwehr bieten, es sei denn, ich schriebe solche Indizien zur Irreführung des Gerichts nachträglich noch hinein und womöglich dazwischen, was zwar strafbar wäre, aber technisch problemlos zu machen; jede Geschichte kann per Computer in kürzester Zeit neu montiert und sogar vollkommen umgeschrieben werden, keine Geschichte der Welt ist davor geschützt, zur Irreführung des Gerichts oder aus anderen Gründen per Computer beliebig umgeschrieben zu werden; die Welt ist vielleicht nichts als eine dauernd umgeschrieben werdende Weltgeschichte, eine einzige Weltumschreibungsgeschichte. Aber hieße das nicht, jegliches Schriftstellerethos preiszugeben und fahrenzulassen, dessen Sinn und Aufgabe einzig darin bestehen kann, die Geschichten vor ihrem Umgeschriebenwerden per Computer zu schützen und zu bewahren, auch wenn ich an dieser Stelle nicht umhin kann, mir selbst einzugestehen, daß eine Schriftstellerehre nicht sehr viel auszurichten vermag, solange ihr nicht eine gewisse schriftstellerische Gewalt zur Seite steht, eine Gewalt über das Personal der Geschichte, die hinausgehen müßte über die ersten Seiten und die dortige Aufforderung des Autors an vollkommen abstinenzwillige Leute, sich grundlos in weißen Whisky zu stürzen.
    Ein unerfreuliches Gespräch über Schriftstellerehre und leider auch das Handwerk des Schreibens wird morgen abend mein Verleger mir nicht ersparen, und die Frage der Personenführung wird nicht der einzige wunde Punkt sein. Ich kann mir ungefähr denken, wie das Gespräch verläuft, weil
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