Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
Vom Netzwerk:
und jeder liest seinen Teil der Zeitung.
    »Ich hab dir ein Pausenbrot gemacht«, sagt Dad.
    Mom gibt mir eine braune Papiertüte. Ich werfe einen Blick hinein. Erdnussbutter und Marmelade, ein Apfel, ein Müsliriegel.
    »He, wie im sechsten Schuljahr.«
    Mom verdreht die Augen.
    Dad fährt mir durchs Haar.
    Mir bleiben nur noch ein paar Minuten, bis ich losmuss. Ich esse mein Müsli, putze mir die Zähne, verabschiede mich von meinen Eltern und gehe ein letztes Mal zum Kino.
    Von der Ecke gegenüber der Mall höre ich ein tiefes Rumpeln. Als ich abbiege, weht mir ein Windstoß entgegen, eine lange Reihe von Lastwagen kommt auf mich zu. Ich sehe sie langsam hintereinander die Hauptstraße runterfahren, wie bei einer Beerdigungsprozession. Ich folge ihnen. Ein Fahrer mit einem roten Helm winkt. Ich hebe die Hand.
    Es ist erst kurz nach sieben, aber schon ziemlich heiß. Weiter vorn werden die Lastwagen langsamer und biegen rechts ab in Richtung Kino.
    Als ich hinkomme, hat sich dort bereits eine große Menschenmenge versammelt, und die Lastwagen werden entladen. Alles wird überragt von einer riesigen gelben Maschine, ein Dinosaurier aus Metall. Bestimmt ist sie größer als irgendwas sonst auf der Erde.
    Ich drängele mich durch die Gruppen von alten Menschen und Männern auf Campingstühlen und Müttern mit Kindern an der Hand, bis ich direkt vor der Absperrung stehe. Es ist schon seltsam, dass so viele Menschen hier sind, an meinem geheimen Ort. Ich wüsste gern, wie viele von ihnen früher hier ins Kino gegangen sind und was dieser Abriss für sie bedeutet.
    Ich setze mich im Schneidersitz mitten zwischen die Menschen auf die Straße.
    Dann erwacht die gelbe Maschine zum Leben.
    Der Motor brummt, und zentimeterweise bewegt sie sich vorwärts. Der Hals aus Metall reckt sich mindestens fünfzehn Meter hoch, bevor er auf die Kinomauern kracht.
    Danach geht alles sehr schnell. Mächtige Stahlkiefer am Ende des Halses fressen sich in wenigen Minuten durch die Mauer, dann rollt die Maschine ins Kino hinein, greift es von innen an und bringt die Rückwand zum Einstürzen. Der Boden unter mir bebt. Ein Mann mit Schlauch richtet einen dicken Wasserstrahl auf den Staub, damit er nicht in unsere Gesichter weht. Die Luft riecht stark und giftig, aber als ich mein Gesicht mit den Händen bedecke, fällt mir etwas ein, woran ich schon lange nicht mehr gedacht habe.
    Einmal hat Mom Ingrid und mich irgendwohin mitgenommen und wir mussten tanken. Als wir auf die Tankstelle fuhren, hat Ingrid ihr Fenster runtergelassen. Sie streckte den Kopf raus und atmete tief ein.
    Was machst du da?
, fragte ich.
    Ich liebe Benzingeruch
, sagte sie und atmete langsam aus.
    Ich schnitt eine Grimasse. Ich wusste damals von Benzin nur das, worüber meine Eltern schimpften – es war zu teuer und Mom mochte nicht, wenn sie was davon an die Hände kriegte.
    Ingrid beugte sich aus dem Autofenster.
Versuchs mal. Du wirst es toll finden.
    Ich weigerte mich.
Du hast Probleme
, sagte ich, und sie lachte und sog noch einmal tief die Luft ein.
    Jetzt erkenne ich den Benzingeruch wieder, vermischt mit dem vertrauten Modergeruch aus dem Kino. Während die Maschine das Gebäude wegfrisst und Mauern mit ohrenbetäubendem Krach einstürzen, atme ich die Veränderung ein. Es riecht nicht so schlecht, wie ich gedacht hatte, oder vielleicht so schlecht, dass es schon wieder berauschend wirkt.
    Bevor ich weiß, was geschieht, nähert sich die Maschine der Vorderseite des Kinos. Sie bleibt direkt unter der Anschlagtafel stehen, hebt den Hals, öffnet die Kiefer, und plötzlich ist mein Herz zu groß für meine Brust. Das Dach stürzt ein. Ich stelle mir vor, wie Ingrids Tagebuch vom Regal fällt, die Seiten flattern wie Flügel durch die Luft, und es landet aufgeschlagen auf dem Boden. Das Wasser weicht das Papier auf, bis die Farben verlaufen, die Zeichnungen ihre Konturen verlieren und die Wörter nicht mehr zu entziffern sind.
    Eine Hand drückt meine Schulter. Ich schaue hoch. Es ist Jayson.
    Er hockt sich neben mich und zieht ein Paket Papiertaschentücher aus der Tasche seiner Sporthose.
    Ich kann nicht sprechen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln, und das geht leichter, als ich gedacht habe. Etwas von meiner Anspannung weicht. Er lächelt zurück. Die letzte Mauer stürzt ein, und ich lächele immer noch und wische mir mit Jaysons Taschentuch die Tränen ab, sehe Holz unter der wuchtigen Maschine zersplittern – das alte Kino ist kaum noch zu erkennen.
    Dann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher