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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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ins Bad gehe, bemühe ich mich, nicht in den Spiegel zu schauen. Einmal passe ich nicht richtig auf: Es sieht aus, als hätte mir jemand zwei Veilchen gehauen.

3
    Über den folgenden Tag kann ich nicht sprechen.

4
    Wir schleichen den Highway 1 hoch, weil mein Vater ein vorsichtiger Autofahrer ist, außerdem hat er Höhenangst. Unter uns sind auf der einen Seite Felsen und das Meer, auf der anderen dichtbelaubte Bäume und Schilder, die uns in Städten mit geschätzten vierundachtzig Einwohnern willkommen heißen. Mom hat ihre komplette Sammlung klassischer CD s dabei, und gerade hören wir Beethoven: »Für Elise«, das sie auch immer auf ihrem Klavier spielt. Ihre Finger tanzen leicht über ihren Schoß.
     
    Am Rand einer Kleinstadt halten wir an, um zu Mittag zu essen. Wir packen unser Picknick aus und sitzen auf einem alten Quilt. Mom und Dad sehen mich an, und ich betrachte den mürben Stoff, die von Hand aufgenähten Muster.
    »Es gibt ein paar Dinge, die du wissen solltest«, sagt Mom.
    Ich höre die vorbeifahrenden Autos, von weit unten die Wellen und das Knistern des Butterbrotpapiers. Trotzdem dringen einige Worte durch:
klinisch depressiv; Medikamente; seit ihrem neunten Lebensjahr.
Das Meer ist tief unter uns, aber die Wellen wummern so laut, als wären sie ganz nah und könnten uns ertränken.
    »Caitlin?«, fragt Dad.
    Mom berührt mein Knie. »Süße? Hörst du zu?«
     
    Die Nacht verbringen wir in einer Hütte mit Schlafkojen und Wänden aus zersägten Baumstämmen. Ich drehe dem Spiegel beim Zähneputzen den Rücken zu, klettere die Leiter zu einer der oberen Kojen hoch und tu so, als würde ich schlafen. Meine Eltern gehen in der Hütte hin und her, die Dielen knarren, sie drehen den Wasserhahn auf und zu, spülen die Toilette und öffnen die Reißverschlüsse ihrer Reisetaschen. Ich ziehe die Knie hoch an die Brust und versuche, mich so klein wie möglich zu machen.
    Sie löschen das Licht, und die Hütte liegt im Dämmerlicht.
    Ich starre auf die Baumstammwand. Ich habe mal gelernt, dass Bäume von innen nach außen wachsen. Ein Holzring für jedes Jahr. Ich zähle sie mit meinen Fingern.
    »… das wird ihr guttun«, sagt Dad leise.
    »Hoffentlich.«
    »Wenigstens ist sie mal weg von Zuhause. Hier ist es so friedlich.«
    Mom flüstert: »Sie hat seit Tagen kaum ein Wort gesagt.«
    Ich rühre mich nicht und höre auf zu zählen. Ich möchte mehr hören, aber Minuten vergehen, und dann fängt mein Vater an zu schnarchen, gefolgt von den gleichmäßigen Atemzügen meiner Mutter.
    Meine Hand weiß nicht mehr, wie viele Jahre sie gezählt hat. Es ist zu dunkel, um noch einmal von vorn zu beginnen.
    Um drei Uhr morgens schrecke ich hoch.
    Ich fixiere die Sternbilder, die jemand mit Leuchtfarbe an die Zimmerdecke gemalt hat. Ich bemühe mich, ganz lange nicht zu blinzeln, denn wenn ich das tue, sehe ich Ingrids Gesicht, die Augen geschlossen, die Lippen erstarrt. Lautlos bete ich Biologie-Fakten herunter, um einen klaren Kopf zu bewahren.
Es gibt zwei Stadien der Zellteilung, und dann werden vier Tochterzellen produziert
, flüstere ich fast lautlos, weil ich meine Eltern nicht aufwecken will.
Jede Tochterzelle hat die halbe Chromosomenzahl der Elternzellen.
    Draußen fährt ein Auto vorbei. Scheinwerferlicht gleitet über die Decke, über die Sterne. Ich wiederhole die Lehrsätze, bis alle Wörter ineinander übergehen.
    Zwei-Stadien-der-Zellteilung-und-dann-werden-vier-Tochterzellen-produziert-Jede-Tochterzelle-hat-die-halbe-Chromosomenzahl-der-Elternzellen-Zwei-Stadien-der-Zellteilung …
    Je öfter ich das aufsage, desto komischer hört es sich an. Ich muss lächeln. Dann vergrabe ich meinen Kopf im Kissen, damit meine Eltern nicht davon wach werden, wie ich mich in den Schlaf lache.

5
    An einem heißen Julimorgen fährt Dad nach Hause, weil er wieder arbeiten muss. Mom und ich bleiben in Nordkalifornien, als wäre es der einzige Ort, den wir kennen. Ich sitze vorn und mache den Navigator, sorge dafür, dass wir innerhalb der Grenzen der Landkarte bleiben – nicht nördlicher als höchstens ein paar Meilen nach Oregon hinein und nicht südlicher als Chicco. Wir verbringen den Sommer mit Wanderungen durch Höhlen und Wälder, wir überleben die Schlaglöcher und essen gegrillte Käsesandwichs in Restaurants am Straßenrand. Wir reden nur über die Dinge direkt vor unserer Nase – die Redwoodbäume, die Kellnerinnen, wie übersüß unser Eistee ist.
    Eines Abends entdecken wir mitten in der
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