Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
Vom Netzwerk:
räuspert sich. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, dann schaut er wieder auf sein Skateboard. »Ich hoffe, du findest mich nicht unhöflich oder so, aber … wie hat sie es getan?«
    Meine Knie zittern.
Wenn ein braunäugiger Mann und eine braunäugige Frau ein Kind bekommen, hat das Kind wahrscheinlich braune Augen.
    Der Haupteingang ist vor uns, der Fußballplatz links von uns. Ich stecke die Hand in die Tasche und berühre meinen Stundenplan. Wie in den letzten beiden Jahren habe ich in der ersten Stunde Fotografie. Ich befehle meinen Beinen zu funktionieren, und wunderbarerweise gehorchen sie. Ich trete weg von Taylor und murmele: »Ich muss los.« Im Geiste sehe ich Ms Delani auf mich warten, wie sie bei meinem Hereinkommen von ihrem Stuhl aufsteht und an den anderen Schülern vorbei auf mich zukommt. Bei der Vorstellung, wie sie meinen Arm berührt, werde ich von Erleichterung durchflutet.

3
    Ich habe mit Ms Delani nicht gesprochen, seitdem es passiert ist. Vielleicht entschuldigt sie sich bei den anderen und geht mit mir in ihr Büro, wo wir uns hinsetzen und darüber reden, wie beschissen das Leben ist. Sie wird mich nicht fragen, ob mit mir alles in Ordnung ist, weil sie weiß, dass für uns die Frage:
Ist alles in Ordnung mit dir?,
eine absurde Frage ist. Sie wird die Unterrichtsstunde dazu nutzen, um mit den anderen im Kurs darüber zu reden, wie traurig dieses Schuljahr sein wird.
    Sie wird erklären, dass unser erstes Projekt sich mit dem Thema
Verlust
auseinandersetzen wird, und alle werden wissen, dass meine Fotografie die herzzerreißendste sein wird.
    Ich dränge mich mit den anderen durch die Türöffnung. Der Klassenraum ist heller und kälter, als ich ihn in Erinnerung habe. Ms Delani steht an ihrem Pult und sieht so makellos und schön aus wie immer: Sie trägt Hosen mit Bügelfalte und einen ärmellosen schwarzen Pulli. Ingrid und ich haben oft versucht uns vorzustellen, wie sie Alltagsdinge erledigt, den Müll rausbringt oder sich die Achselhöhlen rasiert. Wenn wir allein waren, haben wir sie immer bei ihrem Vornamen genannt.
Stell dir Veena vor
, sagte Ingrid
, in Jogginghosen und einem gammeligen T-Shirt, wie sie mittags um eins total verkatert aufsteht.
Ich versuchte mir das vorzustellen, aber es klappte nie, stattdessen sah ich sie in einem Seidenpyjama in einer sonnendurchfluteten Küche Espresso trinken.
    Ein paar von den anderen sitzen schon verstreut im Klassenzimmer. Als ich reinkomme, sieht Ms Delani zur Tür, als würde ein Blitz so grell aufleuchten, dass es ihr weh tut. Ich warte eine Sekunde und gebe ihr die Chance, noch mal herzuschauen, aber sie tut es nicht. Vielleicht erwartet sie, dass ich zu ihr hingehe? Jetzt drängeln die Nächsten hinter mir, deshalb gehe ich ein paar Schritte in ihre Richtung und bleibe vorn bei den Bücherregalen stehen, während ich überlege, wie ich mich verhalten soll.
    Sie hat mich ganz bestimmt gesehen.
    Die anderen strömen jetzt an mir vorbei, und Ms Delani begrüßt sie und lächelt und tut so, als gäbe es mich nicht, obwohl ich fast vor ihr stehe. Ich habe keine Ahnung, was gerade geschieht, aber mir ist, als würde ich mitten in dem Pulk ertrinken, deshalb stelle ich mich direkt vor sie hin und weiche nicht von der Stelle.
    »Hi«, sage ich.
    Sie schaut mich mit ihren dunklen Augen durch die Gläser in dem roten Brillengestell an.
    »Schön, dass du wieder da bist.«
    Aber sie hört sich gleichgültig an, als wäre ich eine, die sie nur flüchtig kennt.
    Ich stolpere zu dem Tisch, an dem ich im letzten Jahr gesessen habe, schlage mein Heft auf und tu so, als würde ich etwas lesen. Vielleicht wartet sie, bis alle sich hingesetzt haben und die Stunde offiziell beginnt, bevor sie etwas über Ingrid sagt. Die Letzten kommen herein, und ich lasse mir den Schmerz nicht anmerken, Ingrids früherer Platz neben mir bleibt leer.
    Es klingelt.
    Ms Delani lässt ihre Blicke durch die Klasse wandern. Ich warte darauf, dass sie mich ansieht, dass sie lächelt oder nickt oder irgendwas tut, aber anscheinend endet der Raum kurz vor meinem Platz. Sie lächelt alle anderen an, aber ich existiere nicht. Offensichtlich will sie mich nicht hierhaben, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich könnte meine Sachen zusammenpacken und hinausgehen, aber ich wüsste nicht, wohin. Am liebsten würde ich unter den Tisch kriechen und mich dort verstecken, bis alle wieder weg sind.
    An den Wänden hängen die Fotos vom letzten Projekt des vergangenen Schuljahrs.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher