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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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Aufnahmen, von denen ich Abzüge wollte, und ich suche so lange, bis ich mein Lieblingsbild gefunden habe – ein grasbewachsener Abhang mit kleinen Wildblumen vor blauem Himmel. Es ist bestimmt das friedlichste Foto der Welt. Es ist eine Märchenkulisse, es ist ein Ort, den es nicht mehr gibt.
    Mit all diesen Fotos aus meinem alten Leben in den Händen drehe ich mich um und will auf einmal nur noch schreien. Ich sehe mich schreien, so laut schreien, dass Ms Delanis perfekte Brille zersplittert, alle Fotos von den Wänden fallen und alle im Klassenraum taub werden. Dann müsste sie mich endlich anschauen.
    Stattdessen gehe ich zu meinem Platz und lege den Kopf auf die kalte Tischplatte.
    Als es klingelt, stehen alle auf und gehen. Ms Delani verabschiedet sich von einigen, aber nicht von mir, weil ich ja unsichtbar bin.

4
    Heute Morgen muss ich an unser Freshman-Jahr denken, das erste Jahr auf der Highschool. Erste Stunde. Ich saß neben einem Mädchen, das ich noch nie gesehen hatte. Sie zeichnete lauter Schnörkel in ihr Heft.
    Als ich mich neben sie setzte, sah sie kurz zu mir rüber und lächelte. Mir gefielen ihre Ohrringe. Sie waren rot und sahen aus wie Knöpfe.
    Den Morgen hatten wir zusammengepfercht in der Turnhalle verbracht und uns Direktor Nelsons aufmunternde Rede angehört. MrNelson hat ein rundes Gesicht, einen kleinen Mund und runde Kulleraugen. Er hat schütteres Haar, und diese letzten paar Strähnen waren ganz zerzaust. Wenn ein Mensch wie eine Eule aussehen kann, dann er.
    Ich hatte mich in der riesengroßen Turnhalle verloren gefühlt, sogar meine früheren Schulkameraden hatten wie Fremde ausgesehen. Später saßen wir im Fotografiekurs, und obwohl ich noch nie richtig fotografiert und kaum Ahnung von Kunst hatte, fühlte ich mich im Fachraum von Ms Delani viel wohler als in der Halle. Sie rief die Namen von ihrer Liste auf, machte sich Notizen und brauchte unendlich lange dafür. Das Mädchen neben mir riss eine Seite aus ihrem Heft und schrieb etwas darauf. Sie schob den Zettel zu mir rüber.
Vier Jahre immer solche Scheiße? Der Herr möge uns davor bewahren.
    Ich schnappte mir ihren Stift und suchte nach einer coolen Antwort. Plötzlich ein neuer Mensch. Mutiger. Ich trug Glasarmreifen, die bei jeder Armbewegung klirrten.
    Ich schrieb:
Wenn du mit irgendeinem Typen von der Schule knutschen müsstest, wen würdest du dir aussuchen?
    Sie schrieb sofort zurück:
Direktor Nelson, natürlich. Er ist ja so ein Süßer!
    Als ich das las, musste ich lachen. Ich versuchte, das Geräusch in ein Husten zu verwandeln, und Ms Delani sah von ihrer Liste auf, um uns mitzuteilen, dass wir ihrer Meinung nach alle erwachsen wären und nicht um Erlaubnis bitten müssten, wenn wir rauswollten, um einen Schluck zu trinken oder aufs Klo zu gehen.
    Also tat ich es.
    Ich verließ den Raum und spürte, wie glatt mein Haar war, wie toll meine Hose saß und wie hübsch meine Armreifen klirrten. Ich beugte mich über den Trinkbrunnen, trank das kühle Wasser, und es fühlte sich an wie:
Das ist es! Mein Leben fängt an.
Und als ich wieder zu meinem Platz ging, stand da auf dem Zettel:
Ich bin Ingrid.
    Ich bin Caitlin
, schrieb ich zurück.
    Danach waren wir Freundinnen. So einfach war das.

5
    In der letzten Stunde habe ich Englisch bei MrRobertson. Als ich hereinkomme, glotzt er mich nicht blöd an, sondern nickt mir zu, lächelt und sagt: »Schön, dass du wieder da bist, Caitlin.«
    Henry Lucas, wahrscheinlich der beliebteste Junge unseres Jahrgangs und deshalb wahrscheinlich der fieseste, sitzt in der hintersten Ecke und tut so, als sähe er die beiden Mädels aus Alicias Clique nicht. ANGEL fährt ihm mit rosalackierten Fingernägeln durch die schwarzen Haare, und SPOILED sagt: »Du schmeißt also Freitag eine Party, ja?«
    Henry gibt dauernd Partys, weil seinen Eltern eine Immobilienfirma gehört und sie ständig verreist sind, auf Kongressen reden und immer reicher werden. Wenn sie mal hier sind, organisieren sie Wohltätigkeitsveranstaltungen, die meine Eltern meiden. Ihre Gesichter sieht man immer am Schwarzen Brett und auf dem Briefkopf vom Elternverein – seine Mutter in ihren gutsitzenden schwarzen Kostümen und sein Vater mit Golfschlägern und einem selbstgefälligen Grinsen.
    Jetzt zupft auch SPOILED an Henrys Haaren herum. Henry starrt genervt geradeaus, aber er sagt ihnen nicht, dass sie aufhören sollen. Ich suche mir einen Platz auf der anderen Seite des Fachraums, vorn bei der Tür.
    MrRobertson
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