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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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älter.«
    Ich weiß, dass sie es nicht so gemeint hat, aber ich denke unwillkürlich:
Älter als Ingrid jemals aussehen wird
. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich habe gedacht, ich hätte mir genug Zeit gelassen, um mich auf diesen Besuch vorzubereiten. Fast ein Jahr sollte eigentlich reichen.
    »Mitch macht gerade ein Nickerchen. Er hatte eine anstrengende Woche. Setz dich doch, ich geh ihn holen. Er wird sich freuen, dass du hier bist.«
    Ich setze mich auf ihre Ledercouch, streife meine Schuhe ab und ziehe die Beine unter meinen Po. Ich habe die Seiten, die ich ihnen geben will, schon vorbereitet, aber als ich sie durchschaue, kommt es mir vor, als wären es nicht genug. Ich wünsche mir, ich hätte sie rahmen oder wie ein Buch binden lassen.
    Schritte kommen durch den Flur, und dann steht Ingrids Vater vor mir, er umarmt mich und hebt mich hoch. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll – so war Mitch noch nie. Er war immer freundlich, aber er hatte es nie so mit Umarmungen. Er sagt nichts, sondern hält mich nur fest, verzweifelt fest, und über seine Schulter sehe ich Susans von Wimperntusche schwarzgeränderte Augen und schwarze Streifen auf den Wangen. Ich hatte es mir nicht so schlimm vorgestellt, und ich hasse mich jetzt, weil ich nur noch will, dass er mich loslässt. Seine Arme drücken fester, und ich beiße in das Innere meiner Wange, um nicht aufzuschreien:
Ich bin nicht sie. Ich bin nicht Ingrid, bitte tu nicht so, als wäre ich deine Tochter
. Aber er lockert den Griff nicht. Mir tut das Atmen weh, ich bin hier, in diesem Haus, und sehe alles, wie Susan und Mitch es gesehen haben müssen: Wie sie morgens aufwachen und das Wasser im Bad plätschern hören. Wie sie denken, dass Ingrid aber ziemlich früh duscht, und wieder einschlafen und erneut aufwachen, als der Wecker klingelt. Wie Mitch fragt:
Suzy, hörst du das?
Und Susan antwortet:
Ja.
Sie gehen zur Badezimmertür.
Mitch, warte hier, ich seh mal nach, ob sie duscht.
Ein Klopfen an der Badezimmertür.
Ingrid?
Wieder ein Klopfen, diesmal lauter.
Ingrid!
Das Quietschen der Türklinke, das Wasser, der Geruch – wie Urin, wie Herzzerreißen, wie Metall.
O Gott.
Überall rot.
Suzy, was ist denn? Suzy, ich komme jetzt rein.
    Ihre Tochter, nackt – Brüste und Schamhaar, Hüften und Verletzungen und Blut und Haut und halbgeschlossene, leblose Augen.
    Meine Beine zittern, und Mitchs Arme sind wie eine Zwangsjacke, und Susan steht weinend in der offenen Tür, und ich schmecke Blut im Mund und zwinge meine Stimme zu Normalität, als ich flüstere: »Hey, Mitch«, um ihn daran zu erinnern, dass ich es bin, nicht sie.

23
    Ich sitze wieder auf der Couch und habe meine Beine ungeschickt hochgezogen, weil ich nicht mehr an Röcke gewöhnt bin.
    Mitch sitzt auf der Couch mir gegenüber und sieht etwas verstört aus. Hin und wieder wirft er mir einen Blick zu und lächelt verlegen. Susan kommt aus der Küche und trägt ein Tablett mit Limonade und drei Gläsern.
    »Diese Limonade habe ich aus den Zitronen von deinen Eltern gemacht. Deine Mutter hat mir letzte Woche eine ganze Tüte voll mitgebracht.«
    Ich bin überrascht. »Ich hab gar nicht gewusst, dass ihr euch gesehen habt.«
    Susan gießt uns ein und erzählt mir, dass sie fast jede Woche mit meiner Mutter essen geht, und wieder habe ich das seltsame Gefühl, dass so vieles passiert, von dem ich nichts weiß.
    Als ich mein Glas halb ausgetrunken habe und die Unterhaltung kurz stockt, hole ich die Seiten hervor, die ich ihnen zugedacht habe.
    Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, deshalb erzähle ich einfach alles – wie ich Ingrids Tagebuch unter meinem Bett entdeckt habe und immer nur einen Abschnitt gelesen und dann den Abschiedsbrief am Ende gefunden habe. Susan und Mitch beobachten mich aufmerksam. Einmal beugt sich Susan vor und drückt Mitchs Hand.
    »Das hier sind ein paar Seiten, die ich euch geben möchte.« Ich lege die Kopien auf den Couchtisch.
    Sie sehen sich voll Zärtlichkeit und mich mit Dankbarkeit an und nehmen die Kopien an sich, und da weiß ich, dass sie nicht noch mehr erwarten.
    Sie beginnen mit
Ich an einem Sonntagmorgen
und lesen bis zu
Liebe Mom, ich nehme es zurück
. Susans Kinn zittert. Dann lesen sie
Lieber Dad, es tut mir leid
. Danach lesen sie den Abschiedsbrief.
    Ich sitze still da und warte, bis sie fertig sind. Und obwohl die Seiten offensichtlich sehr bedeutungsvoll für sie sind, habe ich das Gefühl, dass das noch nicht genug ist. Schließlich
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