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Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Ich werde immer da sein, wo du auch bist

Titel: Ich werde immer da sein, wo du auch bist
Autoren: Nina Lacour
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dass das Mädchen sie beim Gaffen ertappt.«
    »Deshalb hat sie nur den unteren Teil von ihr gezeichnet.«
    »Und dann …«, sagt Maddy, »hat deine Mutter angehalten, und du bist aus dem Auto gehüpft.«
    »Und sie hat ihr Tagebuch zugeklappt, weil sie nie jemanden reingucken ließ.«
    »Aber später, als sie die Zeichnung abends noch mal angesehen hat, fand sie, dass etwas fehlt.«
    »Sie hat lange nachgedacht«, sage ich und erfinde den nächsten Teil der Geschichte; ich kann Ingrid richtig vor mir sehen, wie sie an ihrem mit Bleistiften und Filzstiften übersäten Schreibtisch sitzt. »Und sie hat sich daran erinnert, wie es mit elf Jahren war, klapperdürr und flach wie ein Brett …«
    »Oder pummelig und zu schüchtern, um deiner Mutter zu sagen, dass du schon einen BH brauchst.«
    »Und sie fand das ein schwieriges Alter.«
    »Es war wirklich schwierig …«
    »Elf Jahre und ein Mädchen sein.«
    »Deshalb hat sie einen schwarzen Filzstift genommen …«, sage ich.
    »Und
tapfer
geschrieben.«
    Maddy lässt die Kopie sinken und lächelt. Ich lächele zurück.
    »Bis bald?«, fragt sie.
    »Klar. Bis bald.«

20
    Im Auto suche ich in meinem Notizbuch nach der zweiten Wegbeschreibung – von COPY CAT zu Daveys und Amandas Wohnung in Hayes Valley.
    Inzwischen ist auf der Straße viel los, und ich schleiche zwanzig Minuten durch den Stadtverkehr bis zu ihrer Straße. Diesmal ist es schwieriger, einen Parkplatz zu finden, und als ich endlich jemanden rausfahren sehe, bremse ich abrupt. Natürlich versperre ich jetzt die Straße, während mein Blinker blinkt.
    »'tschuldigung, 'tschuldigung, 'tschuldigung«, sage ich zu all den Autos, die um mich herumfahren müssen. Ich brauche mindestens zehn Versuche, bis ich in der Parklücke drin bin. Ich laufe an einem Café mit schicken Gästen und an einem dünnen rauchenden Mann und an Tausenden von Wohnungen aus dem 19 . Jahrhundert vorbei, die zu beiden Seiten die Straße säumen. Ein Penner in einem löchrigen grauen Pullover bettelt mich an, und ich fische aus meiner Tasche einen Dollar.
    »Gott segne dich«, sagt er und geht weiter. Nach ein paar Schritten sagt er noch: »Du bist ein Schatz.« Als er die nächste Seitenstraße erreicht, brüllt er: »Bleib brav! Hör auf deine Eltern! Mach dein Examen!«
    Ich finde die Wohnung – in einem hellblauen viktorianischen Gebäude mit vergoldeten Stuckverzierungen. Ich schaue hoch zur obersten Etage, aber ich kann durch die Fenster nichts erkennen. Ich klingele noch nicht. Stattdessen stelle ich mir vor, was passieren würde, wenn alle Leute ihre Versäumnisse in Wünsche verwandeln und laut herausbrüllen würden, wie der Penner eben. Wenn die Ampeln auf Grün schalteten und die Passanten auf die Straße träten, würden sie einander zurufen:
Mach das College fertig! Fang nie zu rauchen an! Sag deiner Mutter, dass du sie liebhast! Benutz immer ein Kondom! Sei nie gemein zu deinem Bruder! Unterschreib nichts, ohne deinen Anwalt zu fragen! Geh öfter mit deinem Hund in den Park! Bleib in Verbindung mit deinen Freunden!
    Ich läute an Daveys Tür und warte auf Schritte, die die Treppe runterkommen, auf das Summen des Türöffners.
    Nichts.
    Ich läute noch mal, um sicherzugehen.
    Nach einer weiteren Minute setze ich mich auf die Haustreppe und hole die Seiten heraus, die ich ihnen geben will – den ersten Eintrag, den an den aufsichtführenden Lehrer –, weil ich weiß, dass er Davey und Amanda daran erinnern wird, wie viel Energie Ingrid hatte; ein paar Seiten mit Träumereien von Jayson, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass sie diese Seite von ihr nie kennengelernt haben; und eine der letzten Eintragungen, obwohl mir das auch ein bisschen fies vorkommt, als würde ich auf alle ihre guten Erinnerungen eine Bombe schmeißen. Aber gleichzeitig tu ich das, um ihnen Ingrid zu zeigen, und ich will die ganze Ingrid zeigen – die energische, hoffnungsvolle Ingrid, die traurige Ingrid, die heftige Ingrid, die Ingrid, die mich manchmal gehasst hat.
    Nachdem ich alle Seiten beisammen habe, reiße ich ein Blatt aus meinem Notizbuch und schreibe einen Zettel. Dann hefte ich alles mit einer Büroklammer zusammen und stecke es in den Briefkasten.
    Lieber Davey und liebe Amanda,
     
    ich weiß, dass ich versprochen habe, euch zu besuchen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Hier ist etwas, das ich euch geben wollte. Wenn ihr traurig seid, redet ihr hoffentlich miteinander darüber!
     
    Ganz liebe
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