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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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Verzweiflung, weil ich dachte, ich bekomme keinen Eingang zu der Arbeit. Wie geht man damit um, dass diese Zusammenarbeit keinerlei Sentimentalität verträgt? Wie sollen wir die Musik von hier mit dem Gesang von dort, die Themen von Nono mit dem Unverständnis der Burkinabe zusammenbringen? Ich habe in der kurzen Probenzeit bestimmt dreimal gedacht: abbrechen, einfach Schluss, geht nicht. Worüber sollen wir uns hier unterhalten? Was ist eigentlich die Erwartung? Vom Zuschauer, von den Koproduzenten, von der angereisten Truppe, von uns, von mir? Was hab ich mir eigentlich gedacht? Hab ich mir überhaupt was gedacht?
    Vielleicht ist es Luigi Nono ja genauso ergangen. Da hat er 1960 versucht, Revolutionen und ihre Wirkung musikalisch darzustellen, und muss schon 1978 erkennen, dass jede musikalische Äußerung dazu sowieso lächerlich ist. Gerade wenn man innerlich verkrampft, weil einem der angeblich »gerechte Kampf« plötzlich unangenehm und verlogen, überholt und doch noch führenswert erscheint, dann wird man entweder schizophren oder man stellt sich dieser Auseinandersetzung mit den Mitteln des Mediums, die immer auch Mittel des Missbrauchs sind. Mir gefällt das Operndorfprojekt noch mehr als vor einem halben Jahr. Und »Via Intolleranza« stellt vieles klar, was eben nicht passieren darf. Vielleicht hämmert es ja nicht nur bei mir im Kopf. Egal was wir als schwarz-weiße Gesellschaft anzetteln, egal was noch kommt – es stellt sich für jeden von uns jede Sekunde die Frage: Wie komme ich möglichst schnell wieder nach Hause, da wo ich mich auskenne und wo ich versichert bin? (Weiß) Was mache ich hier gerade beim Ethnologen? (Schwarz) Genau das sind die Geschichten dieses Abends. »Keiner hilft keinem« von Kippenberger: was für ein brutaler, anstrengender Auftrag – und was für eine Erholung. Am Ende des Abends marschiere ich in einer Filmprojektion als Jodorowsky-Zauberer mit der Burkinatruppe durch die Savanne, ziehe mich bis auf die Unterhose aus, gehe davon und rufe: TAXI! Raus aus der Hitze und ab in die warme Wanne! Hoffentlich hat meine europäische Lebensversicherung noch nicht den Vertrag gekündigt … Das ist eigentlich alles, was vom Taxi fahrenden Balletttänzer Ahmed aus Ouagadougou, der hier den europäischen Kunstkodex lernen will, in mir übrig bleibt. Oder vielleicht ist das auch bloß unsere einzige Verbindung.
    Und zum Schluss noch etwas Realitätsbezug! Inzwischen hat es auch unseren Tonmann Dave erwischt. Er hat sich in einem Loch am Tonpult den Fuß aufgerissen und eine sehr schmerzhafte und superheftige Blutvergiftung bekommen. Das Krankenhaus hat ihn gleich eingesperrt und verabreicht ihm harte Antibiotika. Carl Hegemann ist seit drei Tagen wieder raus aus dem Krankenhaus, aber auch noch immer kränkelnd. Komi, der kleinste Darsteller der Truppe, musste schon zum Zahnarzt und zum Internisten, der Trompeter Nicolas hat die Stimme verloren, was einem Trompeter egal sein könnte, aber er predigt gerne, und Isabelle hat ein Problem, auf das man nicht sofort kommt: Knieentzündung. Warum? Wegen der Treppen! In Burkina Faso gibt es kaum Treppen.
    Tja, so haben sich die Dinge ergeben. Und morgen werden wir wieder spielen. Und dann werden wir, wie auch die Tage zuvor, sehen und spüren, ob wir uns wie Luigi Nono 1978 fühlen oder noch einen neuen Weg finden. Im Moment sagt nachtkritik.de: »Das Eigenartige an ›Via Intolleranza II‹ ist vielleicht, dass Schlingensief diesmal einen Weg andeutet, sich herauszuhalten.« Und das finde ich noch besser als bloß richtig und gut!
    (PS: Und hoffentlich sind bald alle wieder gesund!)
    Guten Abend, meine Damen und Herren, ich freue mich, hier zu sein. Soll ich etwas sagen? Wollen Sie etwas hören? Ich bin etwas außer Atem, weil ich nur eine Lunge habe, aber immerhin: Ich bin da. Viele sind tot, viele sind untot. Mich hat man jedenfalls noch nicht beerdigt. Das Geschäft läuft gut und Krebs zieht. Das habe ich gemerkt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich keinen Bock mehr habe auf die Nummer, dass die Leute sagen, ah ja, der hat Krebs und jetzt sehe ich erst mal, was der da macht, jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen, der Junge ist viel sensibler, als ich dachte, und hör mal, was der mit der Musik macht, der fühlt jetzt plötzlich auch mehr und der ist ja sowieso bald weg. Alle sind jetzt so zärtlich zu mir und da kann ich nur sagen: Wer mich heute Abend noch mal umarmt, dem schlag ich in die Fresse! Dem schlag ich wirklich in die
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