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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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Fresse! Das geht so nicht weiter. Bloß weil man Krebs hat. Ich habe immer das Gleiche gemacht. Ich habe mein Leben lang das Gleiche gemacht, ich habe mich noch nie verändert in meinem Leben. Ich komme nun mal zum großen Teil vom Theater und Theater ist noch nie von der Stelle gekommen. Deshalb bin ich da auch so gerne zu Hause. Aber das brauchen wir jetzt nicht zu besprechen …
    Wir sind eine Gesellschaft von Selbstbeschädigten und das ist mein Problem. Ich selbst gehöre am Prenzlauer Berg zu dieser Gesellschaft, das sind alles Leute, die haben sich selber fertiggemacht, selbst geschädigt, selbst beschädigt und die nehmen auch nur Leute auf, die auch beschädigt, sind. Das heißt, da kommen keine Gesunden rein, nichts Schönes, immer nur das Kranke, das Kaputte, das Ironische und das über allen Dingen Schwebende. Das ist diese Gesellschaft, da gibt es überall Splittergruppen. Und in diesem Bereich fühle ich mich eigentlich wohl, aber ich dachte, ich muss da mal raus, ich muss mal was Neues machen, ich muss in die Welt, mal was Tolles machen. Und dann dachte ich, das ist doch ideal, ich war in Manaus, ich war in Bayreuth, also bau ich ein Opernhaus in Afrika, das ist doch super, kommt doch sicher gut an, goldene Tafel nach meinem Tod, der ja irgendwann kommt, wie bei allen Menschen: Schlingensief, der Matador, hat hier ein Opernhaus gebaut, großartig. Ja, dann sind wir losgefahren, erst nach Kamerun, Mosambik, dann nach Burkina Faso. In Mosambik war ich fertig. Da lag ich in meinem Hotelzimmer, ich hab gekotzt und geschissen, meine Freundin, die ich inzwischen geheiratet habe, ist abgehauen, mir ging’s superdreckig. Das ist jetzt wirklich das Ende, habe ich gedacht, jetzt sterbe ich. Dann hörte ich plötzlich, wie im Hof des Hotels ein Fest losging, die Leute haben angefangen, Reden zu halten. Erst kommt der Direktor und sagt: Ich danke Jesus für dieses Hotel, für dieses Scheißhotel, für diese Bruchbude danke ich Jesus. Dann kommt der Koch und sagt: Ich danke Jesus, diese Küche ist voller Fledermauskacke und Kakerlaken, wir haben nichts zu kochen, aber ich danke Jesus, dass ich eine Küche habe. Dann kommt das Zimmermädchen: Danke, dass unsere Zimmer so nach Sperma riechen, dass hier alles so dreckig und verranzt ist, danke, Jesus, danke! In diesem Moment habe ich gedacht, auch ich habe zu danken, auch ich muss Danke sagen, ja, ich habe Krebs, ich bin am Ende, ich sterbe gleich, aber ich sage: Danke, Jesus, ich sage Danke! Halleluja!
    Das Projekt hier war unglaublich toll. Die Zusammenarbeit ist wichtig gewesen. Man kennt sich ja eigentlich gar nicht und dann kommt man zusammen und man denkt, toll, das ist ja so ein tolles Gefühl der Gemeinschaft. Wir haben zusammen gegessen und gelacht und geprobt und getanzt, diese Kraft, diese Energie hat mich am Leben gehalten. Dann habe ich plötzlich gemerkt: Ist ja alles überhaupt nicht wahr. Was ist denn das für ein Quatsch, zu glauben, wir müssten uns jetzt alle an die Hände fassen oder so was. Wichtig ist zu begreifen, dass wir eigentlich gar nicht zusammenpassen. Dieser ständige Zwang zu glauben, wir gehören zusammen, hat uns auf einen falschen Weg gebracht. Eigentlich können wir für nichts die Verantwortung übernehmen, weil wir die Gesellschaft der Selbstgeschädigten und Selbstbeschädigten sind. Wir haben schon genug mit uns selbst zu tun. Wir müssen nicht auch noch bei anderen rumhängen und denen erzählen, wie sie es besser machen. Wir sollten uns lieber darauf besinnen, unseren Verein der Selbstbeschädigten und Selbstgeschädigten aufzulösen, endlich wieder haftbar zu werden, endlich wieder zu sagen, ja, ich bin gar nicht der, der ich bin. Das Beste wäre, wenn wir unser Kulturgeld nach Afrika geben und sagen: Macht damit, was IHR wollt, aber gebt uns bitte die Chance zu lernen, lasst uns zuschauen bei dem, was ihr macht.
    Und dann setze ich mich ins europäische Taxi, um endlich abzuhauen und zu verschwinden, denn ich weiß, es geht so nicht. Ich kann gar nicht bei euch leben und ich will gar nicht bei euch leben. Das ist nicht mein Land und das wird auch nie mein Land. Auch, wenn ihr mich liebt, ich weiß, dass ihr mich liebt! Halleluja!
    (23.5.2010, Bühnenauftritt auf Kampnagel, Hamburg)

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