Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition)
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
Vom Netzwerk:
Ouagadougou entfernt, damit es in keine Konkurrenz zu Kulturleuten in der Stadt tritt. Da draußen ist es einsam, ja, aber wenn man genau hinschaut, dann sieht man Dörfer, Kinder, Bauern, Fahrräder, Mopeds, Ziegen und Esel. Mehr Leben, als das Operndorf jemals fassen wird.
    Mein eigenes Leben war mal sehr auf Konfrontationskurs. Davon habe ich die Nase voll. Ich freue mich, wenn Buchstaben im Kopf zu Explosionen führen, um dem französischen Blumenwerk der Poesie auch mal Genüge zu tun. Und allen, die andere Arbeiten machen, egal wo, gilt meine ganz besondere Hochachtung.

Via Intolleranza II
    Nachdenkliche Gesichter in Ouagadougou und Berlin. Die Reisegruppe aus Burkina Faso war auf Platz 42 der Warteliste. Trotz Intervention des französischen Botschafters und einiger anderer Kniffe gab es sehr wichtige Entwicklungshelfer, die Burkina Faso noch vor unserer Musiker-, Darsteller-, Mitspielgruppe (neun Personen) unmittelbar verlassen mussten. Alles in Ordnung, rief Leo, der die Gruppe als englisch sprechender Burkinabe begleitet und mit einer HD-Kamera, um seinen Blick auf die Sache zu zeigen. Wie ich gestern im Radialsystem schon gesagt habe, sind 95 % aller Informationen und Bilder über den afrikanischen Kontinent von Weißnasen. Zum Glück war Francis anwesend. So konnte er genau dort intervenieren, wo die Weißnase Schlingensief wieder ihren Sankt-Martins-Mantel auspacken wollte. Nun aber zurück nach Ouaga. Die Reisegruppe ist nervös. Für fünf von ihnen bedeutet es das erste Mal: raus aus Burkina Faso, raus aus dem afrikanischen Kontinent, rein in die europäische Zuckerbude. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie ich gerade mitfiebere. Mal abgesehen vom allgemeinen Lampenfieber, sehe und höre ich von meinen Leuten, die mit allen Mitteln versuchen, die Gruppe nach Berlin zu schaffen. Gestern wäre ein Flug gegangen: um 1 Uhr nachts Abflug, nach zwei Zwischenlandungen um 12 Uhr mittags in Madrid, mit dem Bus nach Lyon und von dort weitere zehn Stunden nach Berlin – falls es die Tachonadel überhaupt zulässt. Völlig illusorisch: Da kommen dann keine Menschen mehr an, sondern Buspakete, fertig, zumindest psychisch am Ende. Zum Glück war die Probe gestern aber schon so effektiv und interessant, dass ich jetzt erst mal von der Ankunft der Truppe am Freitag ausgehe. Das wäre schon knapp für die sowieso schon knappe Probenzeit, aber immerhin, es wäre super! Also drücken wir die Daumen.
    Aber streng genommen muss ich sagen, dass ich die derzeitige Situation sogar richtig schön finde. Kein Flugzeug am Himmel. Allein der Gedanke! Diese Reinheit, die fehlenden Vibrationen, die der Vulkan sicher auf andere Art wieder in die große Melodie mit einfließen lässt, endlich mal Begrenzung und Erkenntnis, dass es noch immer und Gott sei Dank Dinge gibt, die uns aufhalten können … und eben nicht nur von Menschen gemachte Dinge! Also ich finde es gut, auch wenn die Probenzeit am Ende leidet, aber es sind Menschen aus Burkina Faso und die sind so voller Kraft, dass ich mir da wesentlich weniger Sorgen mache, als wenn ich jetzt mit hochsensiblen europäischen Darstellerlein arbeiten müsste, die so wahnsinnig viel fühlen …
    Wer die Krise sucht, muss nicht unbedingt darin umkommen, aber man sollte sich zumindest mal mit seinem Arzt besprechen, ob einem ein Zustand eher schadet oder eher Nutzen bringt. Und was ich zu unserer Produktion »Via Intolleranza« sagen kann, ist eigentlich nur das: Noch nie waren so viele Leute krank oder kränker als jemals zuvor. Für mich ein Glück, weil es von meinem ständig mitreisenden Zweitthema ablenkt, andererseits eine furchtbare Situation, weil hier wirklich Dinge passiert sind, die an komischen Zauber erinnern. Hier muss jemand eine Grabhöhle berührt haben, die nun ihre Superviren ausschickt, um offene Rechnungen abzurechnen. Eigentlich kommt da gerade der Fluch des Tutanchamun in mir hoch und wahrscheinlich ist das die Grundangst: Beschäftigst du dich mit dem anderen, dann kommst du darin um.
    Die Probenzeit war jedenfalls für alle eine ziemlich niederschmetternde Angelegenheit. Nicht, weil es nicht auch schöne Dinge gegeben hätte, aber es war eben immer diese Folkloresoße an Bord. Auch die Sprach- und Begriffsdiskrepanz war kaum auszuhalten. Und da habe ich die anderen angebrüllt: »Ich brauche diesen Text, verdammt. Wo ist der Ablauf? Was lief da für eine Musik? Wieso hat hier niemand den Durchblick?« usw. … Alles sehr, sehr ungerecht, die reine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher