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Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Titel: Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Autoren: Elisabetta Bucciarelli
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Antworten.« Etwas anderes fiel ihr nicht so schnell ein.
    »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas gefunden haben, Frau Kommissarin. Ich möchte über nichts im Unklaren gelassen werden.«

111
    Sie war dabei, eine Liste anzufertigen. Überschrift: Dinge, die schieflaufen. So etwas wie eine mentale Mantraübung. Pro Steigung ein Eintrag.
    Bei der Geburt verstoßen.
    Ein Leben in Heuchelei.
    Aufbrausend.
    Intolerant gegenüber den Schwächen der anderen.
    Stur.
    Penibel.
    Unfähig, Gefühle beim Namen zu nennen.
    Raucherin.
    Streng.
    PKW s und Linienbusse, die ihre kühnen Fahrkünste virtuos zur Schau stellten, teilten sich die Serpentinen. Maria Dolores fuhr am Schloss von Verrès vorbei, und sie hatte den Eindruck, als würde sie es noch immer mit ihren Kinderaugen sehen. Früher war ihr an dieser Stelle der Straße immer schlecht geworden. Von jemandem anderen geführt, geleitet, befördert zu werden, war gegen ihre Natur. Ob ihre Mutter wohl eine Führerin, eine Anführerin gewesen war? Eine, die niemals delegierte? Und warum hatte sie dann ausgerechnet ihr Kind einer anderen Frau, der Dunkelheit, dem Schicksal überlassen?
    Sie kehrte zu ihrer Liste zurück:
    Kontrollierte Anorexie.
    Sie war noch immer magersüchtig. Wenn auch längst nicht von alarmierendem Ausmaß. Doch von Essstörungen wurde man nie wirklich geheilt, man konnte sie maximal in den Griff bekommen. So wie Panikattacken, an denen sie begonnen hatte zu leiden, nachdem man sie über ihre Herkunft aufgeklärt hatte.
    Weißt du Dolores, als du noch ganz klein warst, gerade geboren … Aber warum hatten sie es ihr überhaupt gesagt? Weil sie es sonst irgendwann selbst herausgefunden hätte? Nein, sie hatte niemals auch nur den geringsten Verdacht geschöpft, nichts, was sie auf den Gedanken gebracht hätte, ihre Eltern wären nicht ihre leiblichen Eltern. Sie hätte es nie erfahren. Und das wäre besser gewesen.
    Inzwischen war sie fast an ihrem Ziel angekommen. Ihr Handy klingelte, und sie antwortete über die Freisprechanlage: »Funi, seien Sie mir nicht böse. Ich bin schon früh am Morgen aufgebrochen. Das nächste Mal kommen Sie wieder mit. Ich melde mich, wenn ich auf dem Rückweg bin.«
    Er kannte sie, wusste, dass sie hartnäckig war. Und er durchschaute vor allem, wann die Kommissarin zu einem Fall nicht mehr genügend Distanz hatte. Wann sie aufsässig wurde. Und Gift spuckte.
    Das Telefon klingelte ein zweites Mal: Michele Conti.
    »Ich bin gerade auf der Heimfahrt. Ich hätte Lust, dich zu sehen.« »Ich auch«, antwortete sie.
    Liste:
    Unfähigkeit, die Gefühlsregungen anderer zu erwidern. Stattdessen formelhafte Sätze wie Ich auch. Für mich auch. Genauso für mich.
    Endlich war sie da. Sie parkte ihren Wagen auf Höhe der Minen. Sie wollte noch einmal dorthin zurückkehren, noch einmal die gleiche Strecke im Wald ablaufen. Hineingehen, um sich selbst ein Bild zu machen.
    Die Carabinieri von Aosta hatten einen Suchtrupp ausgeschickt, waren jedoch nicht fündig geworden. Keine Spur von dem, was sie gesehen hatte. Keine Spur dessen, woran sie sich zwischen Traum und Realität noch erinnern konnte. Sie öffnete das Handschuhfach und entnahm ein Klappmesser. Sie trug keine Waffe; seit sie den Dienst angetreten hatte, lag sie verschlossen im Safe. Sie schob das Messer mit der gelösten Klingenarretierung in die Hosentasche, jederzeit bereit, es einzusetzen. Dann nahm sie eine Taschenlampe und steckte sie in den Rucksack. Das Handy blieb angeschaltet und der Fotoapparat in der Tasche ihrer Daunenjacke. Es war kalt.
    Liste:
    Ich hasse die Kälte.
    Verabscheue Waffen.
    Kann Überheblichkeit nicht ausstehen.
    Vielleicht war mein leiblicher Vater ja gewalttätig, hat meine Mutter geschlagen und hätte es mit mir genauso getan? Sie hat mich weggegeben, bevor es zu spät war. Und nun bereut sie es seit vierzig Jahren. Hat sich deswegen das Leben genommen. Das hoffe ich zumindest. Dass sie vor Schmerz zugrunde gegangen ist. Aus Kummer, weil sie mich im Stich gelassen hat.
    Maria Dolores begann den Aufstieg. Setzte einen Fuß vor den anderen, ohne zu zögern. Sie starrte vor sich hin, zur Seite, auf den Boden. Mindestens zwei Stunden war sie unterwegs, bis der Wald sein Aussehen veränderte. Pinien anstelle von Kastanien. Das Unterholz war von Moos und Pilzen überdeckt, der Boden durchtränkt von Nässe. Rote Beeren hingen an lichten Büschen, die bereits ihre Blätter verloren hatten. Es war kaum ein Laut zu hören. Ein paar Vögel hier und da.
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