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Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono

Titel: Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
Autoren: Elisabetta Bucciarelli
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anständigen Mädchen verramschte sie natürlich nicht, nur die importierten Starletts. Bereits aus Hundert Metern Entfernung konnte man den echten vom unechten Mailänder unterscheiden. Den Pseudo-Assimilierten. Den Sogenannten. Wie auch den Spion, die Schlange am Busen, den Angeekelten. Der die Natur suchte, um vor sich selbst zu fliehen, vor seinen Frustrationen, seinem geplagten Dasein. Unverstanden und gescheitert machte er sich auf die Suche nach dem verlorenen Arkadien. Denn die Stadt gab sich einem hin, wenn man es verstand, sie zu nehmen, wie sie war. Umarmte einen, wenn man ihr Respekt entgegenbrachte, und stand demjenigen bei, den sie akzeptierte. Doch wehe, sie wurde ausgenutzt! Die Bestrafung folgte auf dem Fuß. Früher oder später würde sie einen von sich stoßen, wie ein Furunkel, eine Zyste, einen Mistkerl.

107
    Maria Dolores ging die Via della Spiga entlang. Als sie auf ihrem Weg an der Kirche Sant’Andrea vorbeikam, erinnerte sie sich an eine Initiative, für die sie früher gearbeitet hatte. In einem Kellergeschoss hatte sie eine Theatergruppe mit psychisch kranken Menschen gegründet. Einer von ihnen schrieb auch Gedichte. Er war zweimal adoptiert und zweimal wieder zurückgegeben worden. Umgetauscht, abgelehnt. Er hatte sich später vom achten Stock in den Tod gestürzt. Mit dreißig Jahren Selbstmord begangen. Er hatte lange gebraucht, um zu kapieren.
    Sie ging weiter, und ihr wurde klar, dass diese Art der Bewegung, bei der sie einen Schritt vor den anderen setzte, die einzige Betätigung war, bei der sie zur Ruhe kam. Eine Metapher, die für ihr ganzes Leben stand. Ein Schritt vor den anderen. Keine Sprünge, keine Auslassungen.
    Sie betrachtete die prächtigen Palazzi in der herbstlichen Abendröte und dachte sich wie immer, wie schön sie doch waren in ihrer schlichten Eleganz.
    Sie beobachtete die Leute, die auf dem Weg zum Aperitif waren, Mädchen, die vereinzelt erste Winterbekleidung trugen.
    Man spürte das Verlangen, sich in der Stadt zu verkriechen, in den Häusern zu bleiben, den Wohnzimmern, ganz für sich. Der letzte Winter lag weit zurück, die langen Schatten, die Dunkelheit. Ihr fehlte der Schlussstrich. Von dem aus sie dann vielleicht neu starten, einen neuen Weg einschlagen konnte, der für sie momentan noch unsichtbar war.

108
    Der Kleinbus, der die Frauen in die Abtreibungsklinik bringen sollte, hielt auf der Piazza Castello. Eine Gruppe von Frauen, die einem Kollektiv der Mailänder Universität vorstanden, kümmerte sich um das Organisatorische. Man musste viel Geld für einen Platz in diesem Bus zahlen. Im Voraus. Bis zu drei Millionen alte Lire. Und garantieren, dass man ohne Begleitung hinfuhr.
    »Ich habe sie zum Bus gebracht«, erzählte Guio, dieses Mal ohne sein Instrument.
    »Und ist sie eingestiegen?«, fragte Maria Dolores.
    »Sie hat mir noch hinter dem Fenster zugewinkt. Fünf Mädchen waren es, die eine von ihnen vielleicht gerade mal fünfzehn. Während ich ihnen so hinterhersah, fragte ich mich, wozu eigentlich die 68er gut gewesen waren. Wozu?«
    »Und dann?« Sie überhörte seine polemische Äußerung.
    »Am nächsten Tag, zur gleichen Uhrzeit, war ich wieder dort.«
    »Und Lolli?«
    »Ist lächelnd aus dem Bus gestiegen. ›Alles in Ordnung‹, hatte sie gesagt. ›Bring mich nach Hause.‹ Ich habe sie ins Auto einsteigen lassen, und dann bin ich losgefahren. Sie ist auf der Stelle eingeschlafen.«
    »Und dann?«
    »Und dann habe ich den größten Fehler meines Lebens begangen, der mir bis heute noch meinen Schlaf raubt.«
    »Weiter«, forderte Maria Dolores ihn auf. Funi stand schweigend daneben und hörte zu. Er hatte Angst, es könne ihn zu sehr berühren.
    »Ich habe sie zu ihrer Mutter zurückgebracht. Der Geliebte ihrer Mutter war der Vater des Kindes. Ich liebte Lolli, aber ich war außer Stande, so großmütig zu handeln und Lolli und das Baby bei mir aufzunehmen. Außerdem wollte sie bei ihrer Mutter und bei dem anderen Mann sein. Aber sie wollten Lolli nicht. Das sollte sie zu spüren bekommen, bis zum bitteren Ende.«
    Was genau danach passierte, würde für immer im Gewissen der beiden Komplizen begraben bleiben. Aber Guio fühlte sich dafür verantwortlich. Eine Mutter, die dich wegschickt oder im Stich lässt, akzeptiert kein Kind, das sich ihr widersetzt. Sie steht immer an erster Stelle. Sie kämpft ums Überleben, überzeugt davon, dass du dieselbe Stärke in dir hast.
    »Wenn ich das alles auf irgendeine Weise wiedergutmachen
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