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Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Titel: Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
Autoren: Eveline Hall , Hiltud Bontrup , Kirsten Gleinig
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jeden Dienstag und Donnerstag zum Unterricht. War das ein Glücksgefühl! Ich dachte an gar nichts anderes mehr und lebte nur noch für diese Tage, von Dienstag zu Donnerstag und von Donnerstag zu Dienstag. Ich war ganz in meine Ballettwelt versunken und suchte mir überall Orte, an denen ich üben konnte, selbst im Hauseingang vor den großen Spiegeln. Hier sah ich mich wie im Ballettsaal. Und die Spiegelbilder hörten gar nicht auf: Ich sah meine Pliés von allen Seiten, in unendlichen Reihen. Dabei vergaß ich alles um mich herum – ich war ganz bei mir.

    Und dann passierte etwas, was mich für mein Leben prägte: Ich entdeckte einen Film, der im Kino bei uns um die Ecke lief, in den Harvestehuder Lichtspielen. Normalerweise gab es dort morgens nur Western, aber eines Tages war ein Filmplakat angeschlagen, an dem mein Blick sofort hängenblieb: Die roten Schuhe – ein Ballettfilm! Ich fragte meine Eltern nach Geld und lief los, um die Matinee am Sonntag um elf Uhr anzuschauen. Schon der Kinosaal verschlug mir den Atem. Ein großer Raum, wie ein Filmpalast, mit rotem Plüsch und Samt und richtigen Logen wie für Könige und einem langen roten Vorhang, der die Spannung auf das, was gleich kommen würde, noch steigerte. Und es roch nach Kino: alt, ein bisschen modrig, aber gut, nach Plüsch und antikem Holz. – Dann ging der Vorhang auf, der Film begann. Die roten Schuhe von 1948, benannt nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. Ich war vom ersten Moment an gebannt, vor allem von der Hauptfigur, der jungen Tänzerin Victoria Page, der Vicky mit ihren roten Haaren. Auf einem Fest lernt sie den Ballettleiter Boris Lermontov kennen. Er holt sie in sein Ensemble und nimmt sie mit nach Paris und Monte Carlo, wo sie die Hauptrolle tanzt in seinem neuen Stück, Die roten Schuhe . Das Mädchen, das diese roten Schuhe trägt, muss immer und immer weitertanzen, bis es vor Erschöpfung umfällt. Am Ende tanzt es sich zu Tode. Das Stück wird im Film zum Erfolg, und Vicky verliebt sich während der Proben in den jungen Komponisten Julian Craster, derfür die musikalische Umsetzung engagiert ist. Aber Lermontov duldet diese Liebe nicht und will, dass Vicky sich ganz dem Tanzen verschreibt. Die zwei Verliebten verlassen daraufhin das Ballett und heiraten. Einige Zeit später bietet Lermontov Vicky noch einmal an, das Stück in Monte Carlo wieder aufzuführen – mit ihr als Primaballerina. Sie willigt ein. Doch kurz vor der Aufführung kommt Julian und fordert eine Entscheidung von ihr. Zerrissen zwischen ihrer Liebe zu Julian und dem Tanz springt Vicky in den Tod.

    Ich war wie berauscht von der Wucht, mit der der Film auf mich wirkte: die leuchtenden Farben, der leidenschaftliche Tanz, die Musik, die Kostüme, das Bühnenbild und vor allem die roten Schuhe, diese glänzenden roten Schuhe, die selbst zu leben schienen. Ein Bild habe ich bis heute ganz deutlich vor Augen: wie Vicky in den roten Schuhen die Wendeltreppe hinuntertanzt – oder vielmehr wie die Schuhe tanzen, wie sie Vicky hinunterziehen. Man sieht nur ihre Beine und Füße in diesen roten Schuhen, die immer weitertanzen müssen, nach vorn gleiten, weiter und weiter.
    Die Dramatik der Geschichte selbst drang damals gar nicht zu mir durch. Ich verstand nicht, warum Vicky zwischen Liebe und Tanz so zerrissen war. Warum sollte sie einer Sache entsagen? Wieso wollten die beiden Männer sie ganz für sich haben? Warum nahm sie sich das Leben? Sie hätte doch weitertanzen können. Tun, was sie wollte. Ich wollte diesen Fragen auf den Grund gehen. Ich wollte es verstehen. Und ich wollte Vicky tanzen sehen. Von nun an ging ich jeden Sonntagvormittag ins Kino. Es wurde mein Sonntagsritual: Meine Eltern bereiteten das Mittagessen vor und ich ging um elf Uhr in Die roten Schuhe .
    Weihnachten rückte näher. Noch mehr als wir Kinder freute mein Vater sich darauf, zumal er am 24. Dezember Geburtstag hatte. In der Adventszeit wurde er selbst wieder zum Kind und zelebrierte mit Feuereifer all die Dinge, die für uns dazugehörten. Er setzte alles daran, etwas ganz Besonderes aus dem Fest zu machen, obwohl wir gar kein Geld dafür hatten. Papa war wie besessen von dem Wunsch, dass alles strahlte. Selbst in unserem kleinen Zimmer bei Boesches reichte unser Weihnachtsbaum bis an die Decke. Wäre er noch höher gewesen, hätten wir ein Loch in den Putz schlagen müssen. Nichts ging für meinen Vater über einen großen Tannenbaum.
    Weihnachtspäckchen schnürten wir
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