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Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)

Titel: Ich steig aus und mach 'ne eigene Show (German Edition)
Autoren: Eveline Hall , Hiltud Bontrup , Kirsten Gleinig
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Saal mit den Spiegeln kam mir vor wie das Paradies und Isabella Vernici wie seine Herrscherin. Sie war eine wunderschöne Russin mit einem schmalen, feinen Gesicht und schwarzem, streng zurückgekämmtem Haar, das sie zu einem Dutt hochsteckte. Wie aus einem Roman von Tolstoi. Und diese Sprache! Ihr Akzent, in dem sie uns ganz ruhig, aber sehr bestimmt sagte, was wir zu tun hatten: »Bauch rrein! Schulter rrunter! Und durrchatmen. Nun steht ihr errst einmal da. Und dann geht es ins Plié …« – wunderschön! Sie war pummelig, was ungewöhnlich war für eine Ballettlehrerin, und ihre Beine wabbelten ein wenig, wenn sie die Échappés vormachte. Aber ihre Ausstrahlung war vollkommen klar. Alles, was sie mich lehrte, sog ich wie gebannt auf.
    Ich lebte nur noch für das Ballett, war wie besessen vom Tanzen. Zu dieser Faszination trug auch die Atmosphäre an der Staatsoper bei. Sie gehörte untrennbar dazu. Dieses Flirren in der Luft und dieses Mystische, das jeden Abend neu die Bühne beherrschte und bis in unsere Garderobe drang – es hatte mich ergriffen. Ich wollte alles auskosten, was sich mir dort bot. Nun durften wir Ballettkinder auch bei den Opern mitwirken. Sofort war ich Feuer und Flamme. Mein erster Auftritt war in La Bohème von Giacomo Puccini. Ich spielte eins der Lumpenkinder, die im zweiten Akt den Spielwarenverkäufer Parpignol umringen. Wir sangen im Chor: »Hallo, Parpignol, Parpignol, Parpignol!« Mein Kostüm war aus lauter Stofffetzen zusammengenäht, aber ich fühlte mich alles andere als abgerissen und lumpig auf der großen Bühne zwischen den Sängern. Aufregend und erhebend waren diese Abende. Und sie brachten nicht nur Spaß, sondern auch ein wenig Geld. Drei Mark bekam ich pro Aufführung. Angesichts der klammen Finanzen zu Hause war das nicht zu verachten. Allein mein Ballettunterricht kostete dreißig Mark im Monat, die für meine Eltern nicht leicht aufzubringen waren. So konnte ich die Hälfte selbst bezahlen. Ich wollte beweisen, dass ich ehrgeizig war.
    Mein Vater spielte zu dieser Zeit am neu gegründeten Ernst Deutsch Theater, das damals noch Das Junge Theater hieß, außerdem in den Hamburger Kammerspielen unter Ida Ehre und im Theater im Zimmer. Daneben machte er Kabarett und war regelmäßig bei Rundfunk- und Filmproduktionen dabei. Er hievte sich von einer Rolle zur nächsten. Ein festes Engagement, das er mit mehr Einsatz sicherlich bekommen hätte, lehnte er aber bewusst ab. »Denn muss ick ja jeden Abend irgend’n Blödsinn spielen. Bin von der Familie weg. Det is ja keen Leben.« Er wollte seine Freiheit nicht eintauschen gegen finanzielle Sicherheit und meinte, das Glück sei immer auf seiner Seite. Zwar behielt er recht, doch war er darauf angewiesen, dass seine Kontakte funktionierten und er kurzfristig einspringen konnte, wenn man ihn brauchte. Aus diesem Grund hatten wir schon in Eppendorf ein Telefon in unserer Wohnung – in Zeiten, als das alles andere als normal war. Ein großes schwarzes Telefon mit Wählscheibe, die Nummer war 484884. Es sollte möglichst oft klingeln, damit mein Vater Geld verdienen konnte. Wenn er wegging, instruierte er uns Kinder ganz genau: »Hier habter n Zettel und n Bleistift. Und wenn det klingelt, immer janz jenau uffschreiben!« Manchmal verstanden wir etwas falsch oder notierten es nicht korrekt. Dann wurde er richtig böse: »Det musste doch haarjenau uffschreiben! Hab ick doch jesacht. Mensch, davon leben wir, falls ihr det noch nich begriffen habt!« Es war jedes Mal ein Drama. Wir empfanden eine Hassliebe zu diesem Telefon. Wenn es nicht klingelte, bekamen wir Angst, und wenn es klingelte, liebten wir es. Dass ein Telefon eine solche Macht haben kann!
    Für mich besitzt es diesen Nimbus noch heute und darum habe ich mir vor ein paar Jahren genau so einen Apparat gekauft. Er steht für den Geist, der unsere Familie prägte: das Improvisieren, das Zupacken im richtigen Augenblick. Was das betrifft, bin ich viel mehr die Tochter meines Vaters als die meiner Mutter. Mami war immer sehr zurückhaltend und zögerlich. Umtriebig sein und die Gelegenheiten nutzen, die sich bieten, das brachte mein Vater mir bei. Doch was bei mir hinzukam, ist der große Ehrgeiz, der meinem Vater völlig abging und der meinen Eltern so ungewöhnlich schien, dass meine Mutter noch heute sagt: »Püppi, wenn ich dich nicht zu Hause in Greifswald geboren hätte, dann würde ich nicht glauben, dass du unser Kind bist.« So fremd war in unserer Familie
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