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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich
Autoren: Janet Clark
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fortzusetzen. Doch er hatte seine Chance genutzt.
    Sein Griff um ihren Arm war unerbittlich, noch kräftiger als früher. Er wirbelte sie herum. Hass und Triumph blitzten aus seinen Augen. »Und? Jetzt? Hm?«
    Ihr freier Arm schoss nach vorn, die Faust geballt, direkt auf seine Nase. Warmes Blut spritzte auf ihre Finger. Im Reflex ließ er sie los, tastete mit der Hand nach seiner Nase. Blut lief jetzt über seinen Mund. Sie nutzte seine Schrecksekunde, holte aus und ließ ihre Fäuste im Stakkato in sein Gesicht krachen. Mit einem Schrei riss er seine Arme hoch, wehrte ihre Schläge ab, griff sie an, stach zu.
    Lydia spürte, wie das Messer in sie eindrang, tief in ihre Gedärme, zerstörte, was sich ihm in den Weg stellte. Sie spürte den Schmerz, als er es herauszog und wieder zustieß. Sie spürte den Frieden, der plötzlich über sie kam, als sie zu Boden sank und ihn toben hörte. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Er hatte keine Macht mehr über sie.
    »Das hast du jetzt davon, du Scheißluder!« Carlo stand vor ihr, keuchend, das Messer in der Hand steif nach oben gerichtet. Sie konnte ihn nur noch verschwommen erkennen. Er rührte sich nicht. Stille legte sich über den Raum. Sie schloss die Augen. Hörte nur seinen schweren Atem.
    »K… Kein … Selbst… mord …«, keuchte Lydia in die Stille.
    »Was?« Sie spürte seinen Atem neben sich. Er musste sich zu ihr heruntergebeugt haben.
    »Du … hast … verlor…«

83
    Die Dunkelheit machte Sara zu schaffen. Sie krallte sich mit den Zehen in den kalten Ziegelstein, verstärkte den Druck auf die Kante unter ihren Fingern und tastete mit der anderen Hand nach der nächsten Unebenheit, die ihr genug Halt geben würde, um sich weiter hochzukämpfen. Gleich müsste wieder eines der Bullaugen kommen, die leicht versetzt in regelmäßigen Abständen eingebaut waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, wozu sie dienen sollten, aber als Kletterhilfen waren sie ideal. Wenn sie richtig mitgezählt hatte, passierte sie gerade den vierten Stock. Sie erreichte das Bullauge und machte eine kurze Verschnaufpause. Die Schnittwunde pochte wild. Die Hände schmerzten. Ohne Magnesium war es doppelt schwer, sich zu halten.
    Es war wieder still geworden. Sie hörte keine Schritte mehr. Nicht mehr das Gerenne von vorhin, vielleicht war Lydia weggelaufen, hatte versucht zu entkommen. Dann das Gebrüll. Sie schauderte wieder. Fast wäre sie abgestürzt, als es losging. Es hatte nichts Menschliches gehabt. Das Zorngebrüll eines Löwen. Jetzt diese Stille. Eine unheimliche Stille. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Wand. Die nächsten Griffe kamen mechanisch, tasten, greifen, sichern, hochziehen, nachgreifen. Noch einmal, dann hatte sie den letzten Stock erreicht.
    Sie zog sich über die Schwelle und stand im Raum. Der feste Boden unter ihren nackten Füßen fühlte sich gut an. Plötzlich brach der Sturm los. Sofort sah sie Carlo. Wie er tobte, auf Valeska eintrat. Valeska, die am Boden lag und sich nicht rührte. Carlo, wie von Sinnen, der Obszönitäten brüllte, sich um sich selbst drehte, dann wieder zutrat.
    »He! Carlo!« Sie schrie so laut sie konnte. Er reagierte nicht auf sie. »He! Arschloch!«
    Er hielt inne. Dann drehte er sich um. In Zeitlupe, als glaube er, nicht recht zu hören.
    »Ja! Du! Arschloch! Lass sie in Ruhe!« Sara hörte sich schreien, sah, wie Carlo langsam auf sie zukam. Einen Arm hielt er in Angriffsstellung vor sich gestreckt. Sie konnte nicht erkennen, was er in seiner Hand hielt, aber sie war sich sicher, es war das Messer, mit dem sie heute schon Bekanntschaft gemacht hatte.
    Sie war hellwach. Jede Muskelfaser stand unter Hochspannung, bereit, zum Äußersten zu gehen, als wüsste ihr Körper, dass er sich auf einen ungleichen Kampf einließ. Saras Gehirn arbeitete fieberhaft, sie brauchte eine Waffe, um sich gegen sein Messer zu verteidigen. Ohne Carlo aus den Augen zu lassen, suchte sie den Raum nach etwas ab, womit sie sich wehren konnte. Ihr Blick fiel auf ein Gerüst an der Rückwand. Die untere Ebene fehlte, Bretter lagen erst auf etwa zwei Meter Höhe. Eine der oberen Stangen hing lose in der Verankerung.
    Er kam näher.
    »Sara …« Er schüttelte den Kopf, als wundere er sich über ihren Leichtsinn. »Mischt sich schon wieder in Dinge ein, die sie nichts angehen.«
    Er lachte höhnisch. »Herzlich Willkommen zu deinem Tod …«
    Sie raste los. Auf die Wand zu, fünf Schritte die Wand hoch, stieß sich ab und sprang zum Gerüst. Es
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