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Ich sehe dich

Titel: Ich sehe dich
Autoren: Janet Clark
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Stein, den Oberkörper nach vorne gebeugt. Vorsichtig, als befreie sie uralte Knochen von feinem Wüstensand, wischte sie den Schnee von den kupferfarbenen Buchstaben, bis die Inschrift vollständig zu lesen war. Dann nahm sie die Rosen, die sie auf dem Stein abgelegt hatte, und platzierte sie sorgfältig unterhalb der Inschrift.
    Anina 28 * Lucca 8 * Neni 6 * Nora 5
    Die Sonne ging unter, bevor es Abend wurde.
    »Ach Anina, warum hast du nicht auf mich gehört? Wir hätten zusammen neu angefangen, weit weg von hier.« Sie öffnete ihren Rucksack und holte eine Grabkerze heraus. »Wen hätte es gekümmert? Mich nicht. Ich wollte eh nicht in München bleiben.«
    Sie legte die Kerze auf ihrem Schoß ab und griff wieder in den Rucksack. »Wir hätten in Berlin eine neue Gruppe gründen können. Oder in Hamburg. Oder … ach egal, irgendwo, wo er dich nicht gefunden … wo er euch nicht gefunden hätte.«
    Die dritte und vierte Kerze stellte sie aufrecht in den Schnee, dann nahm sie eine Schachtel Zündhölzer, holte eins heraus und fuhr damit an der Reibefläche entlang. Das dünne Hölzchen entflammte kurz und erlosch, bevor sie es in die Nähe der Kerzen bringen konnte. Sie versuchte es wieder und wieder, doch kaum bewegte sie das Streichholz, flackerte die Flamme und ging aus. Mit einem unwilligen Laut warf sie die Schachtel in den Schnee und begann, ihren Rucksack nach einem Feuerzeug zu durchwühlen.
    »Du könntest jetzt hier sein! Du und dein dämlicher Dickschädel. Weißt du eigentlich, was du mir abverlangst? Oder wie oft ich alles hinschmeißen will? Einfach hier weg und abhauen.« Ungestüm riss sie am Reißverschluss der äußeren Tasche. »Weißt du, wie oft ich mich frage, ob ich das Richtige tue? Du hättest natürlich keine Zweifel, du würdest mich auslachen, nein, du würdest mir die Leviten lesen, weil ich an unserer Sache zweifle.«
    Mit der rechten Hand zog sie ein Feuerzeug aus dem Rucksackfach. Dann flüsterte sie kaum hörbar: »… und wahrscheinlich hättest du sogar Recht. Aber was hilft mir das?«
    Sie nahm die Kerzen hoch, eine nach der anderen, hielt sie schräg und zündete sie an. Die Flamme des Feuerzeugs wehte nach hinten und versengte die Haut an ihrem Daumen. Lydia ließ das Feuerzeug fallen und tauchte die Hand in den Schnee, spürte, wie die kalten Kristalle um ihren Finger herum schmolzen und den Schmerz betäubten.
    Dann platzierte sie die leuchtenden Grablichter sorgfältig über den Namen. »Ihr seid nicht umsonst gestorben. Das verspreche ich dir.«

3
    Ziellos schlenderte er die Straße entlang, bis zum Nymphenburger Kanal, dessen schnurgerader Verlauf ihn immer wieder aufs Neue faszinierte. Dort blieb er, wie so oft, stehen und verlor sich in der Betrachtung der geraden Linie des künstlichen Gewässers, das auf seiner gesamten Länge nicht einen Zentimeter von seinem vorgesehenen Weg abwich. Nur so funktioniert es, dachte er, man muss dem einmal eingeschlagenen Weg bis zum Ende folgen.
    Das fröhliche Treiben einer Gruppe Jugendlicher, die auf der gefrorenen Wasseroberfläche Eishockey spielte, irritierte ihn. Schnell überquerte er die Fußgängerbrücke und verschwand in der Dunkelheit des Grünwaldparks. Er genoss den Schutz des dichten Nadelwalds, der ihn von dem Trubel der Kanalbesucher abschottete, und verlangsamte seinen Schritt. Als sei es ein Spiel, lauschte er dem Knirschen seiner Sohlen auf dem Schnee und achtete darauf, genau in der Mitte des Weges zu bleiben.
    Es war kalt, der Wetterbericht hatte weiterhin Minustemperaturen vorhergesagt. Er sah seinen warmen Atem in der eisigen Luft, doch er spürte die Kälte nicht. Er berauschte sich an der Vorstellung, wie er seine Hände um ihren Hals legte. Seine Hände an der Kehle dieses Luders. Bald.
    Viel zu schnell erreichte er die in weihnachtlichen Lichterglanz getauchte Hauptstraße. In der beleuchteten Auslage eines Buchladens stapelten sich Bücher und festliche Päckchen vor einer mit Kunstschnee bestäubten Trennwand. Er blieb stehen und betrachtete sein Spiegelbild im Schaufenster. Blaue Augen. Schmale Lippen.
    Sein Handy klingelte. Prüfend blickte er auf die Nummer im Display, doch er wusste bereits, wer dran war. Es war so weit. Die Zeit des Wartens war vorbei. Die Jagd begann. Jetzt.

Montag, 8. Dezember
     

4
    Sara stellte das Telefon auf Lautsprecher und betrachtete sich im Spiegel. Mit einer raschen Bewegung zog sie den Bleistift aus dem zu einem Knoten geschlungenem Haar. Wie sehr sie doch ihrem Vater
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