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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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Gedichten ausging. Schon das Schreiben als solches war hochbrisant und wurde von allen Seiten beargwöhnt. Vor jeder Veröffentlichung wurde geprüft, kontrolliert und verhandelt, als ging’s um Regierungserklärungen. Das eigentliche Problem aber waren die Nichtveröffentlichten, denn hier vermuteten Partei und Geheimdienst besonders staatsgefährdende Texte. Wer etwas nicht veröffentlichte, der hatte etwas zu verbergen – so einfach war die Logik und prekär die Folgen.«
    »Wenn die nichtveröffentlichte Literatur schon so gefährlichwar«, wandte ich ein, »wie stand’s da erst um die nichtgeschriebene?«
    »Ihr Gedicht ist wunderschön«, sagte sie ungerührt. »Für wen haben Sie es eigentlich verfaßt?«
    Den Punkt hatte ich noch nicht bedacht.
    »Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht mehr. Ich wußte bis vor kurzem nicht, daß es das gibt.«
    »Wie? Sie erinnern sich nicht?«
    »Sagen wir, kaum. Woher haben Sie’s denn?«
    »Warten Sie! « Sie schwang sich ins Nebenzimmer und kehrte nach kurzer Zeit mit einem beeindruckenden Stapel Akten zurück, den sie vor mir auf den Tisch bugsierte.
    »Doktorarbeiten, Gutachten und Protokolle«, sagte sie nicht ohne Stolz, »alles zum Thema SED-Staat, Stasi und Literatur, was wir über unseren Verein sammeln konnten.«
    Ich war beeindruckt.
    »Und das alles über ein einziges Gedicht von mir?« fragte ich mit nur halb gespieltem Entsetzen.
    Da mußte sie, sehr mädchenhaft plötzlich, laut kichern.
    »Naja«, sagte sie, »aber schauen Sie ruhig mal rein. Ich glaube, Sie sind …«, sie suchte und blätterte, »ja, hier ist etwas über Sie. Ich lasse Sie allein. Wenn Sie Fragen haben – bin nebenan.«
    Sprach’s und verschwand.

    Akteneinsicht. Stasi. Gauck-Behörde. IM-Vorlauf. Operative Personenkontrolle. Wörter, bar jedes sexy Charmes, die, bei mir zumindest, einen Gähnreflex auslösten, einen enormen Schub Langeweile. Kann man leider nicht steigern: Längsteweile? Langeweilste? Die Milchmädchen-Moral, die die Debatte in den Jahren nach ’89 prägte, wollte ich nicht geschenkt haben.
    Auch von heute aus gesehen wirkt sie kaum wie großes Kino. Wen soll das fesseln: Welcher IM da in, sagen wir, Jena heimlich auf dem Dachboden saß, wer die Spur derentwendeten Tomaten aus der Betriebskantine aufgenommen und wer einen Honecker-Witz weitergemeldet hat? Die Spitzel in der DDR konnten einem leid tun: Immer nur übernächtigte Liedermacher überwachen, mal den Taxifahrer, der Zahncreme aus dem Westen schmuggelt, mal die angehende Pionierleiterin, deren Onkel einen Ausreiseantrag gestellt hat.
    Shakespearereife Stoffe sehen anders aus.
    Zwei-, drei-, viermal, erinnerte ich mich, dürfte ich ihr Ende der achtziger Jahre begegnet sein, der Stasi. Zuletzt bei jenem Nordkorea-Verhör in der Magdalenenstraße mit Oberleutnant Schnatz. Einmal wurde ich in Pankow an der Mauer auf der falschen Straßenseite erwischt, die schon als Grenzgebiet galt und nur mit Passierschein betreten werden durfte. Dann fuhr ich beim Trampen in einem Westwagen mit und durfte nach dem Aussteigen gleich wieder in einen dunkelblauen Lada umsteigen, um Erklärungen abzugeben. Und da waren die zwei Typen von der Telefon-Entstörungsstelle, die vor meiner Tür standen, obwohl ich gar kein Telefon hatte. Sie gaben sich in der Wohnung ohne viel Drumrum als Mitarbeiter der Sicherheitsorgane zu erkennen und hielten mir einen Zettel unter die Nase. Darauf war ein Gedicht. Sie wollten wissen, ob ich der Autor sei.
    Ich schaute, und ich prüfte, und ich überlegte, und ich sagte: »Nein.«
    Ob ich sagen könne, wer es eventuell geschrieben habe?
    Ich zuckte mit den Schultern. »Klopstock? Möglicherweise?« fragte ich.
    Sie wußten es auch nicht. Nach einer Weile sinnlosen Prüfens – ich hielt das Blatt gegen das Licht, drehte es mehrmals herum wie eine potentielle Fälschung – verabschiedeten sie sich, für meine Begriffe etwas zu freundlich, und gingen.

    In diesem Land schrieb ja jeder – ohne es zuzugeben. Wurde man gefragt, ob man schreibe, hätte man nur nach der Vorlageunwiderlegbarer Indizien eingestanden, es zu tun – wobei es seinerzeit eine gewisse Mode war, Literatur als heilige Angelegenheit zu betrachten, die niemand einfach so macht. In der DDR gab’s ja auch kaum Kommunisten, die von sich aus erklärten, daß sie Kommunisten seien. Kommunist zu sein galt als schier unerreichbares Fernziel eines vorbildlich im Dienste der historischen Mission und der Menschheit absolvierten
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