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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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Lebenslaufes. Mit dem Schreiben war es ähnlich. Wer schrieb, besaß selten die Kühnheit, zu sagen: »Ich schreibe.« Besser, er sagte: »Ich versuche, zu schreiben.« Am allerbesten aber sagte er: »Ich versuche etwas in der Art, das eines Tages vielleicht in eine Richtung gehen könnte, die Schreiben zu nennen wäre.« Alle, die damals schrieben, redeten so, und es waren viele. Die DDR wurde über Jahre von einer regelrechten Lyrikepidemie heimgesucht.
    Ich stritt es sicherheitshalber immer gleich rundum ab.

    Das Gedicht, das mir die falschen Telefonmänner unter die Nase gehalten hatten, erblickte ich jetzt wieder in der Aktensammlung des V.U.U.D., als Beispiel für das aus vielen Zeugnissen sprechende, unterdrückte poetische Kritikpotential der DDR-Bevölkerung:
    D RINGENDE B ITTE
    Baby, wenn du sterbst,
    Baby, dann ist Herbst.
    Nicht nur diese Jahreszeit.
    Sondern alles landesweit
    Hat dann, ehrlich, keinen Sinn,
    Wenn du wärest hin.
    Ringsumher sinkt das Niveau,
    Sogar im Politbüro.
    An muß ich dich flehen,
    Nicht von mir zu gehen.
    Zeilen, die ich – wie ich nicht dunkel, sondern schon düster erinnerte – einem Brief an die Geliebte beigelegt hatte, der ich damit zu imponieren hoffte. Die Stasi hatte den Brief abgefangen. Wie, wann, warum und was sie wem genau damit beweisen wollte, war mir nicht ganz klar. Zugegeben, dem Ding war eine homöopathische Doppelbödigkeit nicht abzusprechen. Aber in puncto Harmlosigkeit war es auch nicht ohne.

    Es muß da in der Spätphase der DDR eine völlig verpeilte, haarsträubend hirnverbrannte Truppe von Leuten gegeben haben, die zur feindlichen Gedicht-Abwehr gebildet wurde. Kritzelte jemand einen Aphorismus auf den Bierdeckel, rückte das »Spezialkommando Spruchdichtung« aus. Reimte wer »sauer« auf »Mauer« wurde die »Einsatzbrigade Sonett« alarmiert. Schmückte ein sechzehnjähriger Schüler seine Liebesbotschaft mit ein paar süßen Versen, dann stiegen die »Abfangjäger der lyrischen Landesverteidigung« auf, um die Brieftaube abzufangen. Und durch irgendeine Fehlschaltung im Apparat, Spätfolge des Biermann-Traumas oder tragische Namensverwechslung, hatten sie offenbar mich als Nachwuchsgefahr im Visier und als lyrisches Hochsicherheitsrisiko eingestuft.
    Zu dem Gedicht gab’s gleich mehrere Gutachten, die von irgendwelchen Hauptunterabteilungen oder Unterhauptabteilungen angefertigt worden waren und mit großkalibrigen Phrasen nur so um sich schossen: »Nihilistische Weltanschauung … operativ bedeutsame Anhaltspunkte … feindlich negativer Charakter klar erkennbar … Zweifel am Lebensinhalt … Aufklärung d. Persönlichkeitsbildes des W. … Verhinderung der Pläne und Absichten … Erkenntnisse zu Verbindungspartnern des W. sammeln … Erzieherische Einflußnahme …«
    Wörter waren das, die in ihrer sperrigen Hilflosigkeit fast Mitleid erregten und sogar so etwas wie nostalgische Eruptionen, ja Sehnsucht nach diesem in jeder Beziehung verlorenen Land hervorriefen.
    Ich kam mir vor wie ein unfreiwilliger Nachfolgekandidat auf dem Posten von Kafkas K. Jemand mußte mich verleumdet haben. All diese Akten, all diese Vorgänge, all diese Bände! Und wie ich da leicht düpiert saß mit all diesen sinnlosen Blättern, die anscheinend meinetwegen vollgeschrieben worden waren, begann ich zu schielen, die Buchstaben wurden plötzlich unscharf, es spukte in meinem Kopf, und ich hatte einen Erinnerungsschub. Da war eine weitere Begegnung mit den Sicherheitskaspern gewesen, die ich vergessen, verdrängt, völlig aus dem inneren Auge verloren hatte.
    Drei Leute – oder waren’s zwei? – saßen mir gegenüber, genau an so einem Tisch wie hier, und zwischen uns lagerte der Aktenstapel mit Gott wer weiß was für brisanten Aktennotizen. Jedenfalls zeigte einer von den dreien immer wieder drohend zu ihm hin, als sei er ein Beleg für irgendwas.
    »Wissen Sie, was hier alles steht?«
    Ich hatte keine Ahnung.
    »Protokolle sind das, Gutachten, die wir haben machen lassen, mehrere Gutachten übrigens. Erzählen Sie uns nichts! Wir wissen Bescheid. Wir haben es hier schwarz auf weiß.«
    Eine Gerichtsverhandlung.
    Ein Tribunal.
    Ein Schauprozeß.
    Die drei waren uniformiert, und sie erhoben Anklage gegen mich oder gegen ein Gedicht von mir. Der Unterschied spielte keine große Rolle. Der Ober-Ankläger polterte, als säßen wir in einem riesigen Saal mit Hunderten von Zuhörern. Dabei befanden wir uns in einem winzigen, kümmerlichen Zimmer, und Publikum
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