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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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mit Hängeschnauzer sogar ausbürgerte, am Ende durch die obsessive Konzentration seiner Spezialkräfte auf harmlose Hobby-Existentialisten wie mich völlig konfus wurde.
    Ich bin, auch wenn die Stasileute das nicht wissen wollen, völlig unpolitisch. Die IM müssen dennoch eine Meldung nach der anderen absetzen und einem an den Haaren herbeigezogenen Feindbild zuliefern, weil sie offenbar selbst unter Druck gesetzt werden. Vielleicht gibt’s einen Ausreisefall in ihrer Familie, vielleicht wollen sie Medizin studieren, vielleicht haben sie auf einem Autobahn-Transitparkplatz eine Schachtel West-Zigaretten eingesteckt.
    Ein Riesenaufwand. Kindisch das meiste, kolossal banal. Für die Stasi bin ich, der nur für sich und die Liebste schreibt, eine tickende Lyrikbombe. Sie leitet »Ermittlungen« und »operative Maßnahmen« ein und konfisziert Gedichte für den Frieden (»fatalistische Anschauungen«), über die Jahreszeiten (»negative Grundhaltung zu Teilbereichen der sozialistischen Gesellschaft«), über das Leben im großen und ganzen (»verleumderischer und diffamierender Charakter«). Noch 1989 beschlagnahmt sie, als seien es Schlüsseltexte der Konterrevolution, meine Privatreimereien und läßt seitenlange Gutachten anfertigen.
    Die Lage spitzt sich zu, als ich zur Nationalen Volksarmee komme und weder das Schreiben von Liebesbriefen nach drüben noch das von gemeingefährlichen Texten einstelle. Immer mehr Leute, die ich kaum kenne, bekunden Interesse an meinem Werk, verlangen »Härteres« bzw. etwas »richtig Hartes«. Eine Hauptabteilung I/MB V, inzwischen mit einem Oberst und Oberstleutnant im Kreativteam, konzipieren »zielgerichtete operative Maßnahmen« und die »Schaffung von Beweisen«.Paragraph 220 des DDR-Strafgesetzbuches wird in Stellung gebracht: »Staatsverleumdung«. Man kommt überein, mir in einem »Vorbeugegespräch« zunächst wahlweise zwei Jahre Freiheitsentzug anbieten zu wollen oder mich anzuwerben, was im magisch-poetischen Stasi-Sound so klingt: »Erstellung eines persönlichen Kontakts zum W. und Prüfung einer Kontaktierung und späteren operativen Nutzung nach Absprache.«
    Der Ausstoß an Zielstellungen, Berichten und Festlegungen, die Akte zeigt’s, ist beeindruckend. Ich ahne gar nichts, bringe fatalerweise weiterhin »fatalistische Anschauungen« zu Papier und auf Zettel, die mit stiller Post zu einer »Abteilung 2000« wandern.
    M AL UNTER UNS
    Die dummen Schweine, die da thronen
    In allerhöchsten Positionen
    Und in den abgesperrten Zonen,
    Wo sie mit warmen Hintern wohnen
    Und ihre Ärmelschoner schonen,
    Nicht eine Zeile würde für sie lohnen.
    Jetzt ist die Kuh auf dem Eis.
    »Zu Beginn des Gesprächs«, heißt es im Protokoll, »wirkte der W. sehr nervös und unruhig. Im weiteren Verlauf legte sich aber seine Nervosität und er antwortete ruhig und aufgeschlossen. Beim konkreten Sachverhalt war dem W. aber erneut Unruhe anzumerken, welche sich dann im Gesprächsverlauf wieder legte. Er erklärte, daß er mit seinem Gedicht keine negativen oder feindlichen Absichten verfolgte, sondern mehr eine Ironie ausdrücken wollte.«
    Das war sie, meine erste Begegnung mit Oberleutnant Schnatz. Ich erinnere mich. Vernehmung wegen dringendenTatverdachts, Taten in Tateinheit mit und im Bewußtsein von, staatsfeindliche Gedichte, Freiheitsentzug, Verstoß gegen Paragraphen soundso, soundso und soundso. Die Worte schwirrten mir im Kopf. Es war ein Schock. Mein ganzes Leben, mein Lebensplan, mein Studium – das alles war, von einem Moment auf den anderen, vorbei, erledigt, fin de partie.
    Beim Lesen im Protokoll in der Akte kann ich mich über meine mit voranschreitender Verhördauer erwachende Fürwitzigkeit, ja, Frechdachsigkeit nur wundern. Sogar die Stasi vermerkt, »daß der Genannte während des Gesprächs selbstsicher und überlegt auftrat«.
    Als Eröffnung dient die geplante Offerte einer Freiheitsstrafe, die mir für zwei Jahre in Aussicht gestellt wird. Grund, Delikt und Hauptverfehlung: »Tatbestandsmerkmale gem. Paragraph 220 StGB«, »Herabwürdigung der staatlichen Ordnung oder staatlichen Organe, Einrichtungen oder gesellschaftlichen Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen«.
    Klartext also, Oberleutnant Schnatz will gar nicht lange herumreden, die öffentliche Verbreitung von Gedichten verleumderischen und die sozialistische Ordnung herabwürdigenden Charakters.
    Ich streite das sofort ab. Ich hätte sie nur einem Freund gezeigt oder höchstens zweien,
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