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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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will nicht übertreiben und behaupten, daß mein Leben in Turbulenzen geriet, aber die Ereignisse fingen an, sich zu verketten. Brief, Telefonat und Buch, darin das Gedicht, von dem ich a) nichts mehr gewußt hatte und b) mich fragte, wie es ausgerechnet in diese Sammlung kam. Soweit mir von mir bekannt war, hatte ich jene präpotent-postpubertären Sehnsuchtsreime, mit denen ich in früher Jugend mich selbst auf meine Sensibilität aufmerksam machte, weder jemandem gezeigt noch jemals je veröffentlicht. Ich hatte lediglich wie mancher junge Mensch, der sich mit der Herausforderung konfrontiert sieht, Liebesbriefe schreiben zu sollen, ein paar gefühlsbetonte Verse ersonnen, vor allem um damit die Seiten zu füllen. Wenn das der Untergrund war, von dem aus die DDR lyrisch attackiert wurde, dann war er sehr, sehr schmal.
    Unter dem Gedicht erblickte ich Anmerkungen, die Wissenswertes über meine Person und interessante Neuigkeiten auch für mich enthielten: »W., Jahrgang 1965, Berlin, Student. Von 1981–89 von der Staatssicherheit ›operativ bearbeitet‹. Mitglied der Untergrundgruppe ›Gruppe 61‹ . Manuskripte beschlagnahmt und zum Teil vernichtet. Nach Veröffentlichung der Gedichtsammlung ›Mögliche Exekution des Konjunktivs‹ strafrechtlich verfolgt.«
    Abgesehen von Jahrgang, Ort und Tätigkeit war alles entweder falsch, hanebüchen, Quatsch. Oder ich hatte – wenn das sowar und stimmte – tatsächlich einen bizarren biographischen Blackout.
    Immer wieder geistern Leute durch die Medien, die eines Tages an abgelegenen Stränden auftauchen, ohne zu wissen, wer sie sind und woher sie kommen. Manche monologisieren in astronomischen Formeln, andere sind virtuose Pianisten von Werken, die niemand kennt. Warum sollte ich kein verfolgter Untergrunddichter sein, der sich selbst und der Welt abhanden gekommen ist?

    In meinen Erinnerungen war die DDR weit weg und irgendwo im Umfeld des Ersten Weltkriegs abgestiegen. Mit den Jahren wurde sie immer fremder, immer fragiler – wie eine Zeit vor der Zeit, eine zerplatzte historische Blase, ein entrückter Traum von praktisch nichts. Ein Film, den man lange nicht gesehen hat.
    Zuerst verblaßten die ohnehin schon blassen Farben, mit denen er einst koloriert war. Dann wurde alles schwarzweiß. Der Plot wurde lückenhaft, die Dialoge dünnten aus, es gab nur noch Hauptrollen. Schließlich blieb eine Szene übrig, die aber leider, Verwechslung, aus einem anderen Film stammte. Man weiß nicht mehr, wer zuerst geschossen hat. Wurde überhaupt geschossen? Und welche Rolle spielte diese Mauer? Langsam verschwand der Ton, und der Film erwies sich als Stummfilm. Die Namen der Darsteller lagen auf der Zunge. Man kriegte den Titel nicht mehr zusammen. Schließlich nannte man ihn nur noch »diesen Film«. Und wußte nicht mehr, ob man ihn je gesehen hatte.
    Was mich betraf, muß zusätzlich veranschlagt werden, daß die DDR nie mein Lieblingsfilm gewesen ist. Eindeutig zu lange Monologe, zu viele Massenszenen, jede sah gleich aus, die Handlung zog sich immer weiter hin bis morgen, übermorgen und in fünf Jahren, und was dazwischen passierte, war uninteressant. Ich vergaß das alles mehr oder weniger von selbst. Jelänger der DDR-Streifen zurücklag, um so unrealistischer, unglaubwürdiger wurde er.
    Die Biographie zerfiel, als wäre das Leben eine Diätzeitschrift, in ein Davor und ein Danach. Immer mal gab’s, »plötzlich und unerwartet« wie in Todesanzeigen, dubiose Erinnerungsflashs. Der Geruch in Billig-Drogerie-Ketten reanimierte ausgerechnet die Intershops wieder, Läden mit Westwaren für Westgeld, durch die immer ein penetrantes Odeur von Weichspüler, seifigem Parfum und Haarlack waberte, und ich sah die Schlangen, die es sogar hier gegeben hatte, zumeist Rentner in grauen Mänteln aus Katzenhaarimitaten, und ich überlegte, was sie damals wohl gekauft hatten, und mir fiel ein: Luftschokolade.
    Da war die Flasche »Balkan-Feuer«, die seit einer Ewigkeit im Keller herumlag, ein bulgarischer Dessertwein, rot, aus Karl-Marx-Stadt, EVP 5,90 Mark. Als Marcel Prousts Erzähler von seinen Sandtörtchen, den »Petites Madeleines«, naschte, zuckte er in der Sekunde, da sie den Gaumen berührten, zusammen, durchströmt von einem unerhörten Glücksgefühl, das mit einem Schlag, er vergleicht es mit der Liebe, die Wechselfälle des Lebens gleichgültig werden ließ, seine Katastrophen ungefährlich, seine Kürze imaginär, und das ihn erfüllte mit der köstlichen Essenz
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