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Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)

Titel: Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
Autoren: Rayk Wieland
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Schikanierten, dem Beschatteten und, ja, dem Verbannten – alle Werke weg, von der Stasi verboten, vernichtet, inklusive »Faust III« und »Die ganz neuen Leiden des jungen W.«.
    Biermann reloaded, diesmal ohne Seehundbart.
    Vielleicht hatte ich auch – die Wahrheit ist nicht immer Gold – einen handfesten schizoiden Schub, der mich hier erstmals heimsuchte, und befand mich bereits mitten in einer dieser ominösen Parallelwelten, in denen man Briefe bekommt und Einladungen zum Abendessen mit Solschenizyn und dem Sultan von China.

    Einen Anruf später wurde alles klar – beziehungsweise vollends verwirrend. Eine banale Verwechslung lag nicht vor, kein Schnitzer bei der Post, kein Buchstabendreher im System. Leider.
    Ich war gemeint.
    Hocherfreut, so schnell von mir zu hören, erklärte mir Frau Schneider von den »unterdrückten Untergrunddichtern« den Ablauf der Veranstaltung, wer alles dasein würde und was ich zu tun hätte.
    »Daß Sie kommen«, sagte sie beschwingt und wie inVorfreude auf singuläre Ereignisse, »freut uns wirklich. Wenn Sie vielleicht ein wenig erzählen können, wie es Ihnen so ergangen ist all die Jahre, das wäre toll.«
    »Kein Problem, das kann ich machen«, sagte ich. »Aber wen soll das interessieren?«
    »Da sorgen Sie sich mal nicht! – Ach ja, und vorher lesen Sie so etwa eine halbe Stunde aus Ihrem Werk.«
    »Von welchem Werk sprechen Sie?«
    »Na, Sie stellen Fragen. Von Ihren Gedichten natürlich.«
    Das Telefonat begann, Grenzbereiche des Irrealen zu touchieren. Ich sagte, es gebe keine Gedichte von mir, könne keine geben, und falls es doch welche gebe, dann seien sie eben nicht von mir. Sie erklärte, daß sie das nicht glauben könne, daß sie sie schließlich gelesen habe und daß ein Irrtum daher ausgeschlossen sei, es sei denn, sie irre.
    Ich wußte nichts, sie wußte alles – unter anderem dies: Die Gedichte, angeblich von mir, waren soeben in einer Anthologie verbotener Lyrik aus der DDR erschienen. Es lägen außerdem Berichte vor zu meinem Fall, die ich kennen müsse, jedenfalls kennen müßte.
    »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie die nicht kennen?«
    »Ich weiß überhaupt nicht, was Sie meinen.«
    »Sie sind doch Herr W.?«
    »Ich gehe davon aus.«
    »Ich spreche von Ihnen, von Ihrem Fall.«
    Ich fühlte mich allmählich in eine unkomfortable Defensive gedrängt.
    »Sagen Sie mal, haben Sie nie Akteneinsicht beantragt?« fragte sie.
    »Nie.«
    »Nie?«
    »Ja, warum? Das war mir alles immer zu, wie soll ich sagen, blöd.«Kein Grund zu nörgeln, es lag solide in der Hand: der Einband außen grau, der Titel in blauer Schrift, »Drinnen vor der Tür«. Darunter »Gegengedichte gegen die Gegenwart / Die unbekannten Untergrunddichter der DDR, 1970 – 1990«. Eine halbe Stunde nach dem Anruf hatte ich das schmale Bändchen erworben und durchblätterte die Seiten gleichzeitig vorwärts und rückwärts auf der Suche nach einem einzigen Namen – meinem. Natürlich tauchte er nirgendwo auf, kein einziges Mal, auch nicht im Inhaltsverzeichnis, war ja klar, nirgends, sowieso, lächerlich, was für ein Unsinn – stop!
    Da stand er eben doch.
    Auf Seite 84 – ohne jeden Zweifel – klar und deutlich. Buchstabe für Buchstabe. Fehlerfrei. Richtig.
    In Edgar Allan Poes Erzählung »Sturz in den Mahlstrom« ergraut ein Schiffbrüchiger innerhalb von Minuten, und in Goethes »Faust« macht der alte Prof nach einem aus dem Ruder gelaufenen One-Night-Stand erstmal eine Zeitreise ein paar Jahrhunderte rückwärts um die Ecke. Ich meinerseits hielt dieses Buch in den Händen und kam mir vor wie ein ferngesteuerter NASA-Roboter, der mit zeitlupenhafter Mechanik einen Gegenstand aus dem Marssand klaubt, der eine merkwürdige Botschaft enthält.
    M ÖGLICHE E XEKUTION DES K ONJUNKTIVS
    Ich habe eine der Liebsten,
    Und diese Liebste ist schön.
    Ich wollt, ich könnt mit der Liebsten
    Mal um ein paar Ecken,
    Mal hinter die Hecken,
    Von hier bis nach drübsten
    Gehn.
    Tja, tja und nochmals tja.
    Das Ding, es war von mir. Mein Gedächtnis startete schwach, sprang aber immerhin an. Ewigkeiten passierten die interne Rückschau. Jahrzehnte zogen vorüber. Staaten verschwanden. Mauern fielen um. Die Weine wurden billiger, die Haare länger. Ich sitze am Computer – nein, natürlich falsch: an der »Erika«, da ist das gelbe Gehäuse, da das schwarzrote Farbband, und ich tippe. Und was tippe ich? Ich kann’s leider nicht sehen. Es wird doch nicht dieses Gedicht gewesen sein!?

    Ich
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