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Ich mag dich wie du bist

Ich mag dich wie du bist

Titel: Ich mag dich wie du bist
Autoren: Francesco Gungui
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zurückerobere.
    »Ach, lass sie doch«, sagt meine Mutter nur und die Klagen meines Vaters gehen in ein finsteres Brummen über.

Vier
    »Alice, du bist wirklich das Letzte! Du hast mich enthusiasmiert!«
    In meinem Leben gibt es nur zwei Menschen, die Beleidigungen benutzen, um Komplimente zu machen oder ihre Zuneigung auszudrücken. Einer ist mein Onkel. Jedes Mal, wenn er meinem Bruder begegnet, sagt er zu ihm: »Du wirst auch mit jedem Jahr ein größeres Arschloch«, und dann umarmt er ihn. Der andere ist mein Italienischlehrer.
    »Zwei.«
    »Zwei?«
    »Zwei!«
    »Das muss ein Irrtum sein. Und was bedeutet in dem Zusammenhang enthusiasmieren?«
    »Schlag in deinem Wörterbuch nach.«
    Gegen Ende des zweiten Schulhalbjahres hatte Herr Parti uns folgendes Aufsatzthema gestellt: »Ithaka: Definiere und interpretiere Ithaka auf Grundlage des gleichnamigen Gedichts von Kostantinos Kavafis.«
    Es handelte sich dabei um die Sorte Klassenarbeiten, die gutmütige Lehrer am Ende des Schuljahrs stellen, um den Schülern mit einer guten Fünf unter die Arme zu greifen, beziehungsweise um ihnen wenigstens zu einer würdigen Vier minus zu verhelfen.
    Am Ende der Stunde hält der Lehrer mich auf.
    »Warte mal, Alice.«
    Ich gehe zum Pult, während die anderen für die Pause den Klassenraum verlassen. Der Lehrer sieht mich einige Sekunden an und liest dann mit feierlicher Stimme vor:
    »Du musst Ithaka immer als Ziel vor Augen haben, es zu erreichen muss dein steter Gedanke sein. Vor allem übereile deine Reise dorthin nicht; sorge dafür, dass sie lange dauert, viele Jahre lang, und setze erst als alter Mann den Fuß auf die Insel, wenn du reich geworden bist durch die Schätze, die du unterwegs angesammelt hast, da du von Ithaka keine Reichtümer erwartet hast. Ithaka hat dir die schöne Reise ermöglicht, ohne diese Insel wärst du nie aufgebrochen: Was willst du mehr?«
    Abends schlage ich im Wörterbuch die Bedeutung von »enthusiasmieren« nach. Danach lese ich meinen Aufsatz noch einmal durch, auf der Suche nach irgendwelchen Besonderheiten, die meinen Italienischlehrer eben so enthusiasmiert haben könnten. Ich versuche zu verstehen, was ihn an meiner Version von Ithaka so gerührt hat, auch wenn das nicht ganz die Bedeutung des Ausdrucks ist, den er benutzt hat. Was hat seine Gefühle bewegt? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht, ich weiß nicht einmal, wo mein Ithaka zu finden ist, und ungefähr das habe ich in meinem Aufsatz geschrieben.
    Der Platz vor der Schule ist beinahe verlassen. Es ist höllisch heiß und die halbe Stadt ist ausgeflogen. Alle sind schon am Meer. Ich schließe mein Fahrrad an einem Pfosten an und sehe mich um. Er muss irgendwo in der Nähe sein, denn als er mich angerufen hat, war er schon hier. Ich setze mich auf eine Art Betonpilz vor dem Schultor und warte. Drei oder vier Jugendliche lehnen an der Motorhaube eines Autos und quatschen. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, aber sie sind wohl älter als ich. Ein Mädchen mit langen Haaren kramt in seiner Handtasche, und kurz darauf beleuchtet die Flamme eines Feuerzeugs sein Gesicht.
    Ach, sie schon wieder, das Mädchen von den Zeugnislisten. Martina. Das schönste Mädchen der Schule, jeder steht auf sie, selbst die Lehrer. Der erotische Traum aller Unterstufenschüler und Zielscheibe des Neids für sämtliche Mädchen der Schule. Allgemein beurteilt man sie als »eine, die ganz schön eingebildet ist«, aber auch als »eine blöde Kuh, die jedem den Kopf verdreht und alles hat, was sie will« und als »ein bisschen durchgeknallt«.
    Ich bin ihr nur zweimal wirklich begegnet, und da war sie nicht besonders freundlich, aber bestimmt nicht verrückt und auch keine blöde Kuh. Aber eingebildet ist sie schon, und so benimmt sie sich auch. Doch vielleicht wäre ich das an ihrer Stelle auch.
    Die Begegnungen waren beide damals, als wir die Schule besetzt hatten. Martina gehörte natürlich zum Komitee, das alles organisiert hatte, und leitete sogar eine Lerngruppe. Ich war bei der Besetzung dabei und meine Mutter hat auch nichts dagegen gesagt, außer: »Aber du gehst jeden Tag auch wirklich hin und bleibst die ganze Zeit dort.« Und natürlich: »Dass wir dich da übernachten lassen, schlag dir lieber gleich aus dem Kopf, das ist nur was für die Älteren.«
    Es war am zweiten Tag der Besetzung. Der Tag, an dem man merkt, ob die Leute, die für den Schülerstreik gestimmt haben, auch wirklich gekommen sind.
    Ich betrete die Turnhalle. Martina
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