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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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Dinge, vielleicht in überflüssige, vielleicht zu dick aufgetragen und vielleicht hat das Kind tatsächlich nichts davon. Es kriegt zu oft Lieblingsessen, zu viele Süßigkeiten, zu heftige Umarmungen, die es meist nicht will, Spaziergänge und Trampolinausflüge ganz nach Wunsch und kein Geschrei, wenn es wieder mal lustvoll sein Bett vollpinkelt.
    Und ganz viele Liebeserklärungen.
    Wenn ich mir dann sage, wäre besser, du würdest jetzt mit ihm Kommunikation trainieren oder Hausaufgaben machen, ihn zwingen, sein Matheprogramm am Computer durchzugehen, da hätte er was davon, das wäre gelebte Liebe, Engagement für die Zukunft, stelle ich manchmal auch fest, verräterischerweise: Das kostet Kraft, viel Kraft, mehr als ein »Ich hab dich lieb«.
    Dann frage ich mich, ob es nicht auch ein wenig billig ist, dieses Gefühl? Hilflos, zumindest?
    So ist das mit Simon. Man weiß nicht nur nicht, was er denkt oder fühlt, man verliert dabei immer auch ein Stück Gewissheit über die eigenen Gedanken, Empfindungen und Motive. Bin ich eine gute Mutter, bin ich eine Katastrophe für einen Autisten? Gebe ich ihm Halt, bin ich seine Handpuppe? Tun wir das Richtige, drücken wir uns vor den Aufgaben? Tut man je genug? Denkt und fühlt mein Sohn ähnlich wie ich oder stülpe ich ihm nur Interpretationen über, die ihn mir ähnlich machen sollen? Was meint Simon, wenn er sagt: »nett sein«, »lieben«? Geht es um Nützlichkeit oder geht es um mehr? Was wäre so schlimm daran, nützlich zu sein? Wird er jemals glücklich sein können, ist er es jetzt? Herrscht tatsächlich Harmonie, oder mache ich mir was vor in meinem aus Worten gebauten Puppenhaus? Oder sitze ich in der Falle, lebenslänglich? Ist das Leben heiter, oder ertragen wir es im Grunde kaum? Was ist gut, was ist schlecht, was ist einfach, wie es ist?
    Die Sichtweisen klaffen so weit auseinander. Immer wieder müssen sie neu definiert werden. Immer wieder muss man sich für eine entscheiden. Immer wieder den roten Faden neu finden, der einem unter Simons verwirrenden Verhaltensweisen, den eigenen Selbstzweifeln und der Müdigkeit verlorengegangen ist. Letztlich muss man immer wieder neu entscheiden, wer er und wer man selber ist.
    Jedenfalls, die Mappe ist rot, die Mappe ist schön. Als Erstes lege ich die Gedichte hinein, die Simon verfasst hat. Sie werden in einem Kalender abgedruckt werden, damit erhöht Simon die Zahl derer, die in dieser Familie publizieren, auf vier: sein werbetextender Vater, mein Lebensgefährte, der Krimis schreibt, Simon und ich. Sein Bruder sitzt immerhin schon ein halbes Jahr an seinem ersten Fantasy-Roman, wenn er auch noch nicht mit dem Ergebnis zufrieden ist.
    Die Texte sind mittels Gestützter Kommunikation entstanden, und natürlich gibt es Stimmen, die sagen: Das ist geführt, getürkt, natürlich voll des guten Willens, kurz, sie seien das Ergebnis einer Projektion, wie mein Bild von Simon insgesamt eine Projektion sei, die Illusionen einer Mutter auf der Suche nach Trost für ihr kaputtes Leben. Alle werden sich da wohl nie einig sein.
    Simon wird immer eine Frage der Interpretation bleiben. Er kann das Bild, das man von ihm hat, nicht selbst definieren, kann nicht mal Anspruch auf die richtige Interpretation anmelden, wie wir das immerhin können, die wir im Endeffekt ja auch davon abhängen, wie die Welt uns sieht und sehen will. Wir alle sind im Grunde eine Mischung aus unserer Selbstinterpretation und der Sicht der anderen auf uns.
    Aber bei Simon ist es extremer. Das Spektrum reicht von: Da ist ein sensibles, hochbegabtes Kind bis hin zu: Da ist doch gar nichts.
    Als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, dachte ich noch, ich könnte eine Geschichte mit gutem Ende erzählen, dass Simon auf eine neue Schule käme und unser Leben auf einer neuen Stufe begönne, mit einem Kind, das zwar autistisch ist, aber sich bildet und auf diese Weise seinen Weg findet. Jetzt sieht alles wieder ganz anders aus, der Weg des Intellektes scheint überschätzt, die Chance auf neue Stufen überhaupt begrenzt. Wieder, wie schon so oft, stehe ich vor meinem Kind und frage mich: Wer bist du? Was kann ich tun?
    Wieder werde ich auf die Frage zurückgeworfen: Was ist das nur, dieser verdammte Autismus? Ist er wirklich mein ganzes Kind? Ist Simon Autist durch und durch? Oder ist nur der Preis zu hoch dafür, zu dem durchzudringen,
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