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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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Abwesenheit ihres »Kindes« dazu nutzen, den fehlenden Nachtschlaf nachzuholen. Sie leben so, wie ich jetzt lebe, nur schon zwanzig Jahre länger. Wird es bei mir auch so sein? Muss das so sein?
    Damit hätte ich dann doch wieder legitimen Input in die Kanäle des Öffentlichen gespeist, die Debatte befruchtet statt nur voyeuristisch verkleistert. Oder?
    Es würde mich freuen, wenn es so käme. Aber ich bin kein politischer Mensch und kann diese Rechtfertigung daher nicht guten Gewissens für mich in Anspruch nehmen.
    Wichtiger ist mir, Autisten ein Forum zu bieten, sie ins Blickfeld zu rücken als Menschen, die sich nicht selbst in den Augen der anderen definieren und positionieren können. Sie sind die ewig Unterschätzten, die ewig Interpretierten. So viel es geht von ihrem faszinierenden Innenleben zeigen, ohne sie dabei zu romantisieren oder zu beschönigen, das wäre gut. Sie sind ein ständiges Rätsel, vielleicht eines, das nicht vollends lösbar ist, aber sie sind es wert, dass man sich an der Lösung versucht, immer wieder, wie Sisyphus am Felsen. Hat Camus nicht ohnehin so das Leben definiert? Rollen wir den Felsen. Immer wieder findet man dabei ein Stück Seele, ein Stück Mensch, und jedes Stück ist so kostbar.
    Ich hoffe außerdem, das Buch findet seinen Weg in die Hände von Angehörigen, von Müttern wie mir und Brüdern wie Jonathan, denn ich weiß von mir selbst, wie hungrig man nach einer Erfahrung sucht, die der eigenen gleicht, wie man sie verschlingt und wie froh man darüber ist, etwas so Belastendes teilen zu können, sich verstanden zu fühlen, es durch die Augen eines anderen noch einmal erleben zu können und neben dem heimatlichen Gefühl des »Ja, genauso ist das« vielleicht auch noch eine neue Perspektive, einen weiterführenden Gedanken für den eigenen Alltag zu entdecken.
    Das aber geht nur um den Preis der Ehrlichkeit. Ich selbst wäre nicht daran interessiert, den fröhlichen Sekt-und-Selters-Bericht einer perfekten Autistenmutter zu lesen, den man zuklappen kann mit dem beruhigenden Gefühl: Na bitte, alles halb so schlimm. Wohin sollte solche Selbstberuhigung auch führen?
    Gepackt dagegen hat mich die Aussage einer Mutter im Fernsehen, die erzählte, wie es so war, mit ihrem tobenden Dreizehnjährigen an der Hand durch den Verkehr zu gehen, der dauernd an ihr zerrte und den man nie loslassen durfte, sollte er sich nicht in Gefahr bringen. Unerwartet, ich glaube, auch für sie selbst, sagte sie in die Kamera, und man sah ihr die Scham an, die sie im selben Moment fühlte: »Manchmal dachte ich, wozu die Mühe, warum die Hand nicht einfach loslassen?« Ein Auto fuhr vorbei. Sie dachte nach. Dann sprach sie weiter und erklärte, dass sie heute einen Sinn in ihrem Leben sähe und eine Aufgabe.
    Das war ein Moment, der mir weiterhalf, über mich selbst und Simon nachzudenken, der mir begreifen half. Paradoxerweise auch wieder Kraft gab. Ich durfte dieses verbotene Gefühl haben, durfte mir dieses Zögern verzeihen, als ich ihn an der Eibe nagen sah, dieses kurze Überlegen, ehe ich hinstürmte und ihm das Zeug aus dem Mund pulte, durfte es zulassen, musste mich nicht mehr schämen deshalb und konnte danach darüber hinausgehen. Egal, wie meine eigene Erklärung für dieses Weitermachen aussah. Und weitermachen muss man, Tag für Tag.
    Und am Ende: Ich bin ein Geschichtenerzähler, das ist mein Beruf, das ist meine Passion. Simon ist die größte Geschichte, die mir in meinem Leben zugestoßen ist. Einfach klar, dass ich die erzählen musste. Auch wenn ich dafür auf Richard Sennett pfeifen muss, der ein kluger Mann ist.
    Extra für dieses Buch habe ich mir heute eine Mappe gekauft. Die Unterlagen zu Simon sollen nicht in irgendeinem alten speckigen Ordner liegen. Sie ist rot, eine Nahaufnahme dicht gestreuter Rosenblütenblätter, kitschig, sentimental, wenn man so will. Ich neige an sich nicht zum Sentiment, aber bei Simon kann es offenbar nicht genug davon sein.
    Mein Freund sagt, ich emotionalisiere meine Beziehung zu dem Kind unnötig, ich solle ihm klare Regeln für den Tagesablauf geben, da hätte es mehr davon.
    Aber ich kann nicht anders. Da sich im Alltag das viele Gefühl kaum leben lässt, so ohne Sprache, mit eingeschränkter Erlaubnis, einander zu berühren, und seltenem Blickkontakt, legt man die Zuneigung in andere
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