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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Autoren: Tessa Korber
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zu unseren Daseinsbedingungen, und Leid. Das ist die conditio humana .
    In der Theorie wissen wir das alle. Wir Autismusgeschädigten leben sie im Grunde nur ein wenig unmittelbarer, jeden Tag.
    Meine Mutter machte die Erfahrung in ihrem Bekanntenkreis. Anfangs hatte sie sich geschämt, von Simon zu erzählen. All die Sorgen, das Unglück, interessierte das überhaupt jemanden? Später dann erlebte sie, dass ihre Berichte die anderen dafür öffneten, auch etwas von sich preiszugeben. So erfuhr sie von Scheidungen, Depressionen, von kranken Kindern, von Elend und Sorgen. Ȇberall«, stellte meine Mutter entgeistert fest. »Da siehst du immer all die heilen Fassaden und dabei: überall.«
    Ich weiß nicht, ob dieses Wissen die Qualität einiger ihrer Bekanntschaften verbessert hat, ich hoffe es für sie; es bringt einen einander immer näher, wenn man offen miteinander ist und die Schwächen nicht verdeckt. Wichtiger aber ist, glaube ich, dass sie anfing zu begreifen, dass das menschliche Leben nun einmal so aussieht: Schwäche, Leid, Krankheit, das ist der Normalfall. Heile Welt, wenn sie nicht ohnehin eine Lüge ist, das ist eine Sache ohne Dauer. Aber das ist nicht schlimm, es kommt nur einfach darauf an, wie man sich dazu stellt, was man daraus macht. Ob man dieses Leben annimmt.
    Dass ihr Mann Parkinson hat und sie selbst einen, wenn auch gutartigen, Tumor im Gehirn, dass ich geschieden bin und Simon Autist ist, das klingt nach einer Katastrophenserie, so, als wären wir Familie Hiob. Sind wir aber nicht, wir sind nur menschlich. Trotz allem sind wir eine glückliche Familie, glücklicher als die perfekte Fassade, die wir so lange angestrebt hatten, uns gemacht hätte. Sie hätte doch nie gestimmt, weil dahinter immer noch die Vergangenheit meiner Eltern stand, die Monster ihrer Kindheit, von denen auch ich nie ganz loskam, behütet, wie ich war. Glücklich sind wir, weil wir uns nicht belügen, weil wir so, wie wir sind, zueinanderstehen und uns nahe sind. Es liegt an uns.
    Wir Autismusangehörigen wissen, es gibt keine Sicherheit, kein Glück von Dauer, Krankheit ist normal, Gesundheit ein Zufall, die aufklärerische Mär vom steten Fortschritt eine zweischneidige Angelegenheit, wenn nicht eine Lüge. Soweit wir nicht an Gott glauben wie ich, wissen wir, dass es nur auf uns ankommt, auf unsere Fähigkeit zu hoffen und die Kraft der Liebe. Nur sie kann alles ändern. Aber hätte es für die Erkenntnis den Autismus gebraucht? Wozu dauert er fort, wo wir unsere Lektion doch gelernt haben? Und, vor allem, was kann Simon dafür?
    Doch, und doch: Klagegedicht einer autismusgeschädigten Mutter
    Wieso?
Wieso?
Wiesowiesowiesowieso?
Wieso?
Oder anders gefragt:
Warum?
Mal ganz ehrlich: Musste das sein?
Erzählen Sie mir nicht, dass das für was gut ist, weil alles für was gut ist oder, dass man nie weiß, wofür es gut ist. Ich weiß ja, wofür es gut ist: für die Liebe. Alles klar. Dreißig Jahre analytisch-intellektuell, und dann das. War wohl an der Zeit, hat mich weitergebracht. Menschlich und so. Hat mich vieles gelehrt. Alles wahr. Nur die Liebe zählt. Aber jetzt hab ich’s ja kapiert.
Können wir jetzt bitte wieder aufhören?
Muss er sich deshalb jede Nacht ab drei Uhr schreiend auf den Kopf schlagen? Müssen diese Wutanfälle sein, aus heiterem Himmel, bei denen er boxt und beißt? Er ist bald stärker als ich.
Muss er alles kaputtkauen? Muss er immer an der Tür rütteln, wenn ich aufs Klo gehe,
immer schreien, wenn ich den Raum verlasse?
Ich will mein Geld zurück.
    Und was soll ich Simon sagen?
Ich liebe dich, so wie du bist? Ja, verdammt. Ich tu’s ja sogar. Aber was bist du?
Behindert? Anders? Du fragst dich ja selber schon, warum zum Teufel so vieles nicht klappt, wie du es willst. »Warum kann ich Kopfweh von Traurigkeit nicht unterscheiden? Warum kann ich nicht sagen, was ich denke?
Warum diese Höllenangst, wenn meine Selbstwahrnehmung versagt?
Warum gehe ich noch immer an der Hand meiner Mutter?
Warum kann ich nicht aufhören mit dieser Bewegung?
Warum habe ich keine Freunde?«
Warum?
Warumwarumwarumwarum?
Warum sage ich manchmal nichts, wenn du dich heimlich abschnallst?
Warum wasche ich manchmal das Obst nicht, ehe ich es dir gebe?
Warum zwinge ich dich nicht, den Fahrradhelm zu tragen?
Warum untersage ich dir nicht, alles Grünzeug in den Mund zu stecken, das du
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