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Ich lege Rosen auf mein Grab

Titel: Ich lege Rosen auf mein Grab
Autoren: Horst Bosetzky , -ky
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daß sie Jossas Lederweste traf, und dann johlte der gesamte B-Flügel, als er sich beim reaktionsschnellen Abwehr versuch die Brille von der Nase streifte und in einer bühnenreifen Pantomime, halb Fliegenfänger, halb Eishockeytorwart, versuchte, sie wieder an sich zu bringen, bevor sie auf dem Boden zerschellte. Riesenbeifall, als er es schließlich noch schaffte.
    Kassau hielt, während sie hinaus ins erste Stockwerk des B-Flügels stiegen («Fahrstühle wären wohl ‘n Witz hier gewesen…!») seinen Standardvortrag über das hohe Ziel seiner Arbeit. «Ausgerichtet ist hier alles am Paragraphen 2 des Strafvollzugsgesetzes: Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.»
    «Amen!» schrie einer von unten herauf.
    Ein älterer Gefangener, käsig im Gesicht, schlaff und abgewrackt, höchstens Bantamgewicht, schlurfte Kassau entgegen. «Darf ich Sie, bitte, Entschuldigung, kurz, ganz kurz einmal sprechen…?»
    «Was gibt’s denn, Taubert?»
    «Es ist doch so schwül jetzt…»
    «Besser schwül als schwul, mein Lieber!»
    «Ja… Es ist doch so stickig jetzt, die Hitze, nachmittags immer, mein Kreislauf, Sie wissen ja, und da hab ich vorgestern nach der Mittagspause nicht mehr gearbeitet, konnte ich nicht mehr. In der Schneiderei…»
    «Ja, und…?»
    «Bei der Abrechung soll mir nun die Leistungszulage von 28 auf 15 Prozent reduziert werden…»
    «Na, logisch!»
    «Nein, wenn ich Ihnen da widersprechen dürfte, denn ich… Also, ich meine, es ist ja so, daß ich mein Soll doch schon am Vormittag voll erfüllt habe, hatte…!»
    «Na, dann komm mal, wir sprechen mal mit deinem Meister drüben; der steht grad da hinten an’er Kanzel. Moment mal, Herr Jossa…!»
    «Ja, ich warte hier…»
    Die beiden zogen ab, und Jossa nutzte die Chance, einen gerade vorbeieilenden, nicht uniformierten Mann anzusprechen, der zu 99,9 % nichts anderes als Sozialarbeiter sein konnte: Sandalen und Jeans, ein T-Shirt mit dem Greenpeace-Regenbogen drauf und etliche hochoffizielle Aktendeckel unterm Arm, diese grün-gerasterten Mappen mit den eingestanzten Löchern, an denen man erkennen sollte, ob sie etwas bargen oder nicht.
    «…sagen Sie», fragte Jossa ihn, auf Kassau zeigend, «ist der wirklich immer so, oder macht er nur meinetwegen derart auf Humanität? In meine, sein Äußeres, das…?»
    «Der Kassau, der ist schon okay», kam die Antwort. «Rauhe Schale, weicher Kern. Wirklich der beste Gruppenbetreuer, den wir hier in Brammermoor haben.»
    «Ah, ja…»
    «Das geht sogar so weit, daß er einige der Jungs, wenn sie entlassen worden sind, bei sich aufm Flugplatz wohnen und arbeiten läßt.»
    «Bei sich aufm Flugplatz…?» Jossa staunte.
    «Bei sich im Club; Kunstflieger, Loopings und so. Da ist er richtig ‘n Besessener. Also…!» Der Sozialarbeiter rannte weiter, schloß sich zur Pforte durch.
    Jossa notierte sich eine mögliche Zeile: Gruppenleiter Kassau zieht es nach einer langen Schicht hinter Gittern dorthin, wo die Freiheit grenzenlos ist: Hoch über den Wolken schwebt er in seinem Segelflieger über alles hinweg.
    Wenig später war Kassau zurück, bereit, wieder Jossas Lotsen zu spielen, und sie gingen die mittlere Galerie fast bis zum Ende hinunter.
    «Hier ist es!» sagte Kassau schließlich und hielt vor einer der immer gleichen kaffeebraunen Zellentüren, der Nummer 124. Massives Holz, schwere schmiedeeiserne Beschläge, ein riesiges Schlüsselloch, eine Reihe von Schildern und Aufschriften: Belegt mit 1 Mann – ev – Schneiderei – Weißbrot – Galle/Quark – 3 X wöchentl. Milch.
    Kassau schloß auf. «Raus aus’m Bett, Mugalle, die Presse ist da. Sie wissen ja, der Jossa!»
    Jossa hatte es eilig, an Kassau vorbei einen Blick ins Zelleninnere zu werfen. Sah aus und roch auch so wie ihre Notunterkunft, als sie 1952 aus der DDR in den Westen gekommen waren, Lager Berlin-Marienfelde. Ein schmaler hoher Raum. Gleich rechts hinter der Tür das freistehende Klo, dahinter die Pritsche. An der Wand gegenüber ein wackliger Schrank, altes Holz, dunkel gebeizt, dahinter Stuhl und Tisch von Kinderzimmermaßen, höchstens Sperrmüllgüte, wie er später schreiben wollte. Ein schmales Handtuch, ein Schlauch, beherrscht von einem hoch angebrachten, aber überraschend großen Fenster, vielleicht, so dachte Jossa, um den Insassen des Männerzuchthauses von 1871 den Ausblick auf ihre Arbeitsstätte freizugeben, waren sie
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