Ich klage an
Nahen Osten ist es gelungen, die Vereinigten Staaten davon zu überzeugen, daß der aus dem islamischen Fundamentalismus erwachsende Terrorismus das einzige zu bekämpfende Übel sei. Die Vereinigten Staaten sehen nicht ein, daß ausgerechnet diese Regimes und die sie unterstützenden Geistlichen mit zu den Ursachen des
Fanatismus oder Wahabismus gehören, wie Saudi-Arabien es bezeichnen möchte. Da die Fundamentalisten die einzige, übrigens legitime Opposition bilden, die es mit den reaktionären Regimes aufnimmt, wird die Politik der USA die genau entgegengesetzte Wirkung zeitigen. Das Feindbild von Fanatikern wie Bin Laden wird durch das Auftreten der Vereinigten Staaten bestätigt. Das ist die bittere Wirklichkeit: Der Islam setzt die muslimische Bevölkerung als politisches Mittel ein, um die repressiven Regimes abzusetzen, doch die Versprechungen der fundamentalistischen Islamisten bieten der Bevölkerung keinerlei Perspektive. Deshalb ist es dringend notwendig, daß die Muslime ihre Religion von innen her und mit Hilfe von außen kritisieren und reformieren.
Dazu muß man ihnen helfen, sich selbst zu helfen, und darf sie nicht in ihrem Wahn belassen, indem man den grundsätzlichen Fragen aus dem Weg geht. Bei allem Mitgefühl und Verständnis, das man für das persönliche Leiden einer Person haben kann, darf man nicht aus den Augen verlieren, daß gerade dieses persönliche Leiden eine unabwendbare Folge der Art und Weise ist, wie die Grundprinzipien des Islam im Elternhaus, in der Schule, im Alltagsleben und in den (staatlichen) Medien vermittelt werden. Das Problem liegt darin, daß es den Muslimen an Bereitschaft und Mut fehlt, gerade diesen entscheidenden Punkt zu thematisieren. Bei diesem Verarbeitungsprozeß müssen wir allerdings bedenken, daß es einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Zustand von Vater Atta und dem des Islam gibt. Vater Attas Sohn ist tot; er kann es sich erlauben, sein Trauma in Ruhe zu verarbeiten. Diesen Luxus hat der Islam, haben wir Muslime leider nicht.
Was muß geschehen? Für Muslime wie Nichtmuslime heißt die erste Aufgabe, den unversöhnlichen Extremismus, dessen Manifestation die Anschläge vom 11. September waren, nicht zu unterschätzen. Die Angst vor dieser Abspaltung des Islam ist begründet. Im Islam ist Fanatismus eine Realität, die immer größeren Zuspruch gewinnt. Abendländer und Muslime, die beide den Fanatismus ablehnen, dürfen sich nicht wechselseitig die Schuld zuschieben und gegenseitiges Mißtrauen säen. Das ist keine Lösung. Noch schlimmer: Die Fanatiker würden davon profitieren.
Die zweite Aufgabe liegt bei den Muslimen, nämlich in ein Zeitalter der Aufklärung einzutreten. Wir Muslime müssen allmählich einsehen, wie wichtig und dringend es ist, die Balance zwischen Religion und Vernunft wiederherzustellen. Daran müssen wir hart arbeiten. Für die ernste Lage der Muslime weltweit hat die Religion keine passende Lösung zu bieten. Wir müssen die Religion strukturell auf den Platz zurückdrängen, an den sie gehört: in die Moschee und in den Privatbereich. Wir Muslime sind geneigt, universelle Werte wie die Freiheit des einzelnen und die Gleichheit von Mann und Frau als ausschließlich westliche Werte zu sehen. Das ist falsch. Auch wir müssen von diesen Werten Gebrauch machen und an der Schaffung politischer und juristischer Institutionen arbeiten, die diese Werte schützen und fördern können. Auch wir müssen lernen, das Ideal der Machbarkeit zu pflegen, und auch wir müssen uns mit rationalen und wissenschaftlichen Analysen beschäftigen. Zwar fanden diese Werte und Methoden zuerst im Westen weite Verbreitung, doch das will nicht heißen, daß sie für Menschen aus anderen Teilen der Welt weniger wichtig wären. Sonst würden diese ja nicht in so großer Zahl in den Westen flüchten. Um die oben genannten Ziele zu erreichen, ist ein grundlegender Mentalitätswandel erforderlich, der bei einer kritischen Überprüfung der Quellen des Islam beginnt.
Die dritte Aufgabe obliegt vor allem den Nichtmuslimen im Okzident, die schon so lange von den Früchten der Aufklärung profitiert haben. Sie könnten uns Muslimen bei unserem Bemühen helfen, ebenfalls an der Aufklärung teilzuhaben. Philosophen und Politiker, etwa in den Niederlanden, könnten uns bei unserer Suche nach der Vernunft ein Stück weit auf den Weg bringen. Allerdings stehen sie dabei selbst vor einem Dilemma: Wie können sie einerseits eine offene, tolerante und auf
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