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Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter

Titel: Ich hänge im Triolengitter - Bauermeister, M: Ich hänge im Triolengitter
Autoren: Mary Bauermeister
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am Komponiertisch oder in elektronischen Studios ausdachten, sei ja von ihm, Stockhausen, schon auf die eine oder andere Weise vorgedacht, wenn nicht gar in musikalischen Werken umgesetzt worden. Zumindest jedenfalls in seinen vielen Aufsätzen zur Musik und zu zeitgenössischen Fragen. Karlheinz wurde ernst, legte dem Schüler die Hand auf die Schulter und sagte: »Ja, das erklärt mir vieles. Das hilft mir zu verstehen, warum gerade die Kollegen mich so angreifen, denen ich am meisten geholfen habe, denen ich das meiste aus meinem Wissen und Musikersein geschenkt habe. Danke für diese Aufklärung.« Der junge Komponist musste schlucken.
    Manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, mit einem Musikinstrument verheiratet zu sein, das gepflegt und sorgsam gestimmt werden musste, immer bereit zum Musizieren. Wenn Stockhausen ein Konzert beendet hatte und noch nassgeschwitzt am Pult stand, brauchte es oft Minuten, bis er aus der Verzückung aufwachte. Und jedes Mal kam er wie aus einer anderen Welt zurück, einem geistigen Raum. Nun galt es, sich wieder einzufinden hier auf Erden. Ja, die Erde, die Natur in all ihrer Schönheit war eben doch nur eine Scheinwelt, verglichen mit jenen Gefilden. Einmal als ich ihn verklärt und stumm fand, sagte er: »Ich komme gerade aus dem Reich Gottes. Dort ist unsere wahre Heimat. Verlier dich nicht zu sehr mit der Verherrlichung der Materie, sie ist nur Gleichnis.«
    Die Musik und sein Glaube waren ihm das Lebenslicht der Seele. Einmal erklärte er mir, dieses Reich sei eigentlich kein Raum, eher ein Nichtraum, wie ein Nullpunkt, in dem aber alles enthalten sei. Auch Mozart habe einmal gesagt, er höre alles aus einem Punkt; das bedeute, er speichere die gesamte Partitur in einem Nullfeld und könne sie jederzeit abrufen, auch ohne die einzelnen Stimmen vorliegen zu haben.
    Stockhausen erlebte die Welt als Hörer, als Lauschender. Wie sehr störte ihn die immer mehr um sich greifende seichte Musikbeschallung. In jedem Flugzeug, in jedem Kaufhaus, in jedem Fahrstuhl ertönte diese Hintergrundmusik, die man dann abwertend »Muzak« nannte. Er wollte schon in den Fünfzigerjahren mit seinem Lehrer Werner Meyer-Eppler aus Bonn, einem Physiker und Kommunikationsforscher, der das Elektronische Studio in Köln entscheidend mitgeprägt hatte, eine Vorrichtung erfinden, die wie ein Staubsauger alles Geräusch wegschlucken konnte: Krach, unerwünschte Laute, Störtöne und eben Muzak.
    In amerikanischen Bars und Restaurants, in denen eine Jukebox stand, an der man Musikstücke wählen konnte, die die Zeit vernudelten, wie Stockhausen es nannte, gab er dem Wirt oder dem Barkeeper oft einen Dollar mit der Bitte, er möge dafür sorgen, dass vier Platten lang Stille sei. Warum gab es eigentlich an der Jukebox keine Taste für Stille?
    Wie sehr kann ich ihn heute verstehen, noch mehr als damals! Melodien oder auch nur Fetzen davon haften mir im Ohr, im Gedächtnis, drängen sich mir auf, verfolgen mich sogar, je mehr ich versuche, sie aus dem System wegzuscheuchen. Sich ans Klavier zu setzen und eine Gegenmelodie anzustimmen oder zu singen, das hilft. Dieses Stillwerden hatte ich auch mit meinem philosophischen Lehrer Lionel geübt. Denn nur in die Stille hinein kann sich etwas manifestieren, nur in der Stille gelingt es, sich selbst zu erkennen.
    Heute habe ich auch Verständnis für Stockhausens Bedürfnis nach Zurückgezogenheit. Keine Medien, noch nicht einmal Schallplatten konnte er ertragen. Und in seinen späteren Jahren konnte er neben seinen Partnerinnen Suzanne und Kathinka nur eine Person gut in seiner Nähe haben, sich mit ihr unterhalten und austauschen. Ihr vertraute er vieles an, was sie dann wiederum, wenn es für mich bestimmt war, mir behutsam beibrachte: Es war Brigitte Lindenbach, die Schneiderin aus dem Bergischen Land, die auch die Kostüme nähte, die ich entworfen hatte. Sie flickte und bügelte seine Hemden, nähte Kleidung nach, die verschlissen war, und wirkte seit 1967 auch bei allen meinen Nähwerken mit.
    Ich denke noch einmal zurück an unsere fragile Dreierbeziehung, an die jahrelang versuchte ménage à trois . Aus der Erinnerung will mir da zu Doris nur Gutes einfallen. Bei einem Interview wurde ich vor einiger Zeit gefragt, was für mich Heimat bedeute. Nach einigen Ansätzen zur Antwort, ich suchte im Gedächtnis nach Orten, sagte ich, einmal sei mir auch ein Mensch Heimat gewesen: Doris Stockhausen, die mich in ihre Familie aufnahm, als ich verfolgt und
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