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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Autoren: S. J. Watson
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sehe ich sie. Fotos. An die Wand geklebt, an den Spiegel. Bilder, dazwischen gelbe Haftzettel, Notizen mit Filzstift geschrieben, feucht und wellig.
    Ich lese wahllos eine.
Christine
, steht da, und ein Pfeil zeigt auf ein Foto von mir – ein Foto von diesem neuen Ich, diesem
alten
Ich –, auf dem ich an einem Kai auf einer Bank sitze, neben einem Mann. Der Name kommt mir bekannt vor, aber nur vage, als müsste ich mich anstrengen zu glauben, dass es meiner ist. Auf dem Foto lächeln wir beide in die Kamera und halten Händchen. Er ist gutaussehend, attraktiv, und als ich genauer hinsehe, erkenne ich in ihm den Mann, mit dem ich geschlafen habe, der noch im Bett liegt. Darunter steht das Wort
Ben
, und daneben
Dein Mann
.
    Ich keuche auf und reiße es von der Wand.
Nein
, denke ich.
Nein! Das kann nicht sein
 … Ich überfliege die übrigen Fotos. Sie alle zeigen mich und ihn. Auf einem trage ich ein hässliches Kleid und bin dabei, ein Geschenk auszupacken, ein anderes zeigt uns beide im Partnerlook in wetterfesten Jacken, wie wir vor einem Wasserfall stehen, während ein kleiner Hund unsere Füße beschnüffelt. Daneben ist ein Bild, auf dem ich neben ihm sitze, an einem Glas Orangensaft nippe und den Morgenmantel trage, den ich vorhin in dem Schlafzimmer gesehen habe.
    Ich trete noch weiter zurück, bis ich kalte Fliesen im Rücken spüre. Im selben Moment erfasst mich eine schwache Ahnung, die ich mit Erinnerung assoziiere. Als mein Verstand versucht, sie zu ergreifen, schwebt sie davon, wie Asche in einem Lufthauch, und mir wird klar, dass es in meinem Leben ein Früher gibt, ein Vorher, doch ich kann nicht sagen, vor
was
, und dass es ein Jetzt gibt und dass zwischen diesen beiden Polen nur eine lange stumme Leere ist, die mich hierher geführt hat, zu mir und ihm, in dieses Haus.
    ***
    Ich gehe zurück ins Schlafzimmer. Noch immer habe ich das Bild in der Hand – das von mir und dem Mann, neben dem ich aufgewacht bin –, und ich halte es vor mich. »Was geht hier vor?«, sage ich, schreie ich. Tränen strömen mir übers Gesicht. Der Mann setzt sich im Bett auf, die Augen halb geschlossen. »Wer bist du?«
    »Ich bin dein Mann«, sagt er. Sein Gesicht ist verschlafen, zeigt keine Spur von Verärgerung. Er sieht meinen nackten Körper nicht an. »Wir sind seit vielen Jahren verheiratet.«
    »Was soll das heißen?«, sage ich. Ich will weglaufen, weiß aber nicht, wohin. »›Seit vielen Jahren verheiratet‹? Was soll das heißen?«
    Er steht auf. »Hier«, sagt er und reicht mir den Morgenmantel, wartet, während ich ihn anziehe. Er trägt eine Pyjamahose, die ihm zu groß ist, ein weißes Unterhemd. Er erinnert mich an meinen Vater.
    »Wir haben 1985 geheiratet«, sagt er. »Vor zweiundzwanzig Jahren. Du –«
    Ich falle ihm ins Wort. »Was –?« Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht, das Zimmer beginnt, sich zu drehen. Eine Uhr tickt, irgendwo im Haus, und es klingt so laut wie Hammerschläge. »Aber –?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Wie –?«
    »Christine, du bist jetzt siebenundvierzig«, sagt er. Ich sehe ihn an, diesen Fremden, der mich anlächelt. Ich will ihm nicht glauben, will nicht mal hören, was er da sagt, aber er redet weiter. »Du hattest einen Unfall«, sagt er. »Einen schlimmen Unfall. Mit Kopfverletzungen. Es fällt dir schwer, dich an Dinge zu erinnern.«
    »Was für Dinge?«, sage ich und meine eigentlich,
Doch bestimmt nicht die letzten fünfundzwanzig Jahre?
»Was für Dinge?«
    Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu, nähert sich mir, als wäre ich ein verängstigtes Tier. »Alles«, sagt er. »Manchmal schon seit du Anfang zwanzig warst. Manchmal sogar noch früher.«
    Daten und Altersangaben schwirren mir durch den Kopf. Ich will nicht fragen, aber ich weiß, ich muss. »Wann … wann war der Unfall?«
    Er sieht mich an, und sein Gesicht ist eine Mischung aus Mitgefühl und Furcht.
    »Als du neunundzwanzig warst …«
    Ich schließe die Augen. Noch während mein Verstand versucht, diese Information abzulehnen, weiß ich irgendwo, dass sie der Wahrheit entspricht. Ich höre mich selbst, wie ich wieder anfange zu weinen, und sogleich kommt dieser Mann, dieser Ben, zu mir an die Tür. Ich spüre seine Nähe, bewege mich nicht, als er die Arme um meine Taille legt, leiste keinen Widerstand, als er mich an sich zieht. Er hält mich. Gemeinsam wiegen wir uns sacht, und ich merke, dass mir diese Bewegung irgendwie vertraut vorkommt. Sie tröstet
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