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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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Möglichkeit, die Wut rauszulassen. Es hat den Schmerz wegmassiert, die Bitterkeit. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn ich ehrlich gewesen wäre, wenn ich ihn gleich zu Beginn damit konfrontiert hätte, doch Verstellung ist meine natürliche Reaktion, ist das, was ich in der Kindheit gelernt habe. All die Stunden am Küchentisch – der Lebenszyklus des Frosches, die Ursachen des Zweiten Weltkriegs –, wenn ich das Saufen ausgeblendet habe. Was eine Alkoholikerin als Mutter einem fürs Leben beibringt: lächeln und weitermachen.
    Ich biege um die Ecke. Ein anderer Läufer kommt vorbei, Ellbogen wie Messer. Am Spielplatz schaukeln zwei Mädchen im Teenageralter mit Uggs an den Füßen. Ich bleibe stehen, stütze mich auf die Knie. Ich versuche einzuatmen. Ich weiß nicht, ob ich heute Abend überhaupt laufen kann. Ich kriege es nicht richtig hin. Gar nichts kriege ich richtig hin. Mein Kopf pocht, strudelt, mein Herz schlägt zu fest. Ist das Panik? Oder versagt mein Körper? Ich lehne mich an das Spielplatzgeländer und versuche mich zu berappeln.
    Hat er wirklich gedacht, ich wüsste es nicht? Verdammt, natürlich wusste ich es. Oh, zuerst nicht, als ich meine Mutter beerdigte, da wusste ich es nicht. Vor Trauer und Schuld nahm ich nichts anderes wahr. Doch ein oder zwei Wochen später, als der Tod meiner Mutter sich etwas gesetzt hatte und tiefer und stumpfer wurde, kam mir ein Verdacht. Mein Mann, der heimliche Aufreißer: doch eher nicht. Und was hat den großen Romeo verraten? Ein Gähnen. Ein Sonntagabend im September nach einem Wochenende, an dem Millie und ich in Yeovil gewesen waren, um die Wohnung meiner Mutter zu räumen, »Scheiße zu schaufeln«, wie Robin es formulierte. Was hatte er getrieben?, fragte ich ihn, was hatte er die Tage so gemacht? Er setzte zu einer Antwort an – »Ich, ähm …« –, und dann unterbrach er sich, öffnete den Mund und zwang es heraus: ein langsames, vorgetäuschtes Gähnen, um Zeit zu gewinnen. »Bisschen radgefahren«, sagte er. »Bisschen gearbeitet.« Kein Lippenstift am Kragen. Kein Erröten, kein langes, blondes Haar. Philip hat sich durch beiläufige Müdigkeit verraten.
    Ich beobachtete ihn aufmerksam. Unberechenbar in seinem Verhalten – in der einen Minute übertrieben liebevoll, in der nächsten auf Distanz. Er verschwand zu den seltsamsten Zeiten. Das Handy ging sofort auf die Voicemail. Er roch seltsam, nicht nach Parfüm, nichts so Romantisches, sondern nach gebratenem Essen und Wäsche, die auf dem Heizkörper getrocknet wurde. An einem Samstag, als ich nicht wie geplant nach Yeovil fuhr, war er nervös, reagierte genervt auf Millie. Nahm einen Anruf im Garten entgegen.
    Später machte er an seinem Fahrrad herum. Sagte, er bräuchte Ersatzteile.
    Die Mädchen in den Uggs sehen zu mir rüber, alarmiert durch die Laute aus meiner Kehle. Ich richte mich auf und laufe bis zu dem Eingang des geschlossenen Cafés.
    Er hat nicht mal das Auto genommen. Für wie blöd hat er mich eigentlich gehalten? Er ist auf den Common gegangen, und ich bin ihm gefolgt. Sie trafen sich gar nicht weit von hier. Ich sah, wie sie aufeinander zugingen, sie küssten sich nicht, sie berührten sich nicht, sie trafen sich nur. Sie spazierten zum Kricketfeld. Wie beiläufig strichen ihre Hände aneinander vorbei. Bei den Tennisplätzen, von den Bäumen geschützt, sah ich, wie er sich umdrehte, rückwärts weiterging und sie mit beiden Händen an seine Brust zog. Sie waren bunte Flicken in der Wildnis. Reglosigkeit und Bewegung. Zurechtzupfen von Kleidungsstücken.
    Vor dem Café steht ein Picknicktisch, und ich setze mich auf die Bank und stecke den Kopf zwischen die Knie. Ich kämpfe gegen die Übelkeit in meiner Kehle an. Bis heute wusste ich nicht, wie sie sich kennengelernt hatten. Sie ist also zu einem Vorstellungsgespräch gekommen. Um Kindermädchen meiner Tochter – unserer Tochter – zu werden. Sie war in meinem Haus. Sie ist Millie begegnet. Der Betrug geht immer weiter. Sexuelle Eifersucht ist schmerzlich, aber dies ist der wahre Schmerz, so scharf, dass man nicht weiß, was man tun soll. Philip war mein bester Freund. Er kannte alle meine Geheimnisse. Er war mein sicherer Hafen im Sturm. Und doch verschwor er sich gegen mich, wie es noch nie jemand getan hat. Meine Mutter hat mich enttäuscht, doch sie war von etwas besessen, das größer war als sie, einer Krankheit. Philip hat mir das aus freien Stücken angetan. Er wusste, was er tat. Es war – ist –
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