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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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Kerzen auspustet. Daraus ist das Leben gemacht. Am Ende geht es immer um Liebe.
    Rauf zur Brücke und rüber. Hier draußen ist jetzt mehr los. Zwei andere Läufer überqueren die Wiese. Ein großer Hund, der schnüffelnd zum Teich läuft. Unter wildem Flügelschlagen und Geschnatter flattern drei Gänse auf. Der Himmel wird lichter – irgendwo hinter diesen düsteren metallgrauen Wolken geht die Sonne auf, auch wenn die klaren dünnen Sonnenstrahlen den Common noch flacher erscheinen lassen, Kontrast und Farbe aus ihm saugen. Am Kinderspielplatz steckt ein kleiner roter Kinderschuh umgekehrt auf dem grauen Geländer. An einem silbrigen Ast hängt eine nasse Marienkäfermütze. All diese zurückgelassenen Besitztümer, diese Teile, die Menschen dagelassen haben. Einmal fiel mein Blick beim Laufen im Unterholz auf eine Männerhose. Wie bitte? Es ist schließlich nicht der Clapham Common. Wir sind hier in Wandsworth. Hier haben wir Labradoodle und den Rusty-Racquets-Tennisklub , keine Kabinettsmitglieder in kompromittierenden Positionen. Hier spannt keiner.

    Am Café überlege ich es mir in einem Sekundenbruchteil anders und biege ab – eine schnelle Runde um das Bowling Green. Doch als ich die Hütte an den Tennisplätzen erreiche, zieht mich etwas in die Wildnis des Wäldchens dahinter. Normalerweise laufe ich da nicht. Es ist nur ein Dreieck aus dicht stehenden Bäumen, hoch und eng, die den Fußballplatz begrenzen, aber man ist außer Sichtweite der Hauptwege. Es kommt mir zu heikel vor, zu riskant. Warum mache ich es? Das zunehmende Licht? Der Wunsch, dem Tag davonzulaufen? Der fein manikürte Rasen des Bowling Greens und die Behäbigkeit meines Tempos? Mein hoffnungsloses Scheitern bei dem Versuch, Ordnung in meine Gedanken zu bringen? Ich weiß es nicht. Hinterher sage ich womöglich, es war die plötzliche Sehnsucht, frisches Grün unter den Füßen zu spüren, die elend zahmen Grenzen des Common zu sprengen, um ein paar Sekunden allein zu sein.
    Ich habe keine Angst – vielleicht laufe ich zu schnell –, aber das Laufen fällt mir nicht so leicht, wie ich erwartet hatte. Der Untergrund ist uneben, verschiebt sich, um mich zum Stolpern zu bringen. Äste stechen in Augenhöhe hervor, auf Knöchelhöhe lauern Grasbüschel. Und dann fällt durch ein Gewirr aus Ästen mein Blick darauf.
    Zuerst denke ich an aufblasbare Puppen. Oder Fische. Einmal sind wir im Urlaub auf der Isle of Wight an einem toten Delfin vorbeigekommen, der am Strand lag – beunruhigend blass und fleischig, verstörend deplatziert –, und als ich als Studentin vor Jahren in Oxford am Kanal entlangspazierte, bin ich über einen toten Schwan gestolpert, der auf dem Damm ausgestreckt lag. Es war schockierend, aber nicht so sehr, weil er tot war – obwohl in all der vergeudeten Schönheit, dem vielen Weiß, durchaus etwas Grausames lag –, sondern vermutlich, weil er einfach dalag, weil niemand ihn weggeräumt hatte, bevor ich kam.
    Ich bleibe stehen und schiebe mich ein Stück ins Gebüsch, drücke die blassen Weißbirkenschösslinge zur Seite, wo Hunde oder ein Fuchs oder ein Mensch das Laub platt getreten haben, bis dahin, wo dieses Durcheinander liegt.
    Dann trifft mich das ganze Entsetzen dessen, was ich sehe, und alles, was ich denken kann, ist: Es ist weder eine Puppe noch ein Fisch noch ein Schwan.
    Sie liegt auf der Seite, die nackten, weißen Arme über dem Kopf ausgestreckt, den Kopf nach hinten gebogen. Ihr mahagonifarbenes Haar wurde nach hinten gerissen und legt ihr Gesicht frei. Ihre Augen sind offen, doch sie sind glasig, wie mit Klebefolie überzogen. Sie hat lange, dichte Wimpern – so lang und dicht, dass es nur künstliche sein können oder Extensions –, ein schmales Gesicht, kleine Zähne über einer geschwollenen Zunge, die aus dem Mund über die Unterlippe quillt. Sie trägt eine enge, khakifarbene Hose – vielleicht von Topshop – mit Taschen an den Oberschenkeln und kleinen Reißverschlüssen an den Knöcheln. Ihre Füße sind nackt. Ihre Zehennägel sind poliert, fast schwarz, die Fingernägel dagegen rau und eingerissen. Das schwarze Dreieck eines Tangas da, wo ihr pinkfarbenes T-Shirt mit Flügelärmeln am Rücken hochgerutscht ist. Ihre Haut – Gesicht, Hals, ein Teil ihrer Brust – ist bläulich weiß, doch übersät von Malen, Blut, Schnitten und Kratzern, winzigen Punkten, waagerechten dunklen Linien und blauen Flecken. Und ihr Hals … Ich ertrage es nicht, den Blick auf ihren Hals zu
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