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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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den Augen, und die Augenlider schlupfen auch jeden Tag mehr. Mein Haar ist nicht mehr so kräftig, wie es mal war; das Tizianrot verblasst zu … was, Lachs? Ich denke an das Haar meiner Mutter, so glänzend, so wild und lebenssprühend, als ich ein Kind war, doch am Ende von einem schmutzigen Orange-Pink. Die Haare des toten Mädchens waren auch rot. Bestimmt nicht echt. Bestimmt gefärbt. Ist es verrückt zu sagen, dass sie mir irgendwie bekannt vorkam?
    »So …«, sagt Annie und tritt zurück, »jetzt sehen Sie wieder mehr aus wie ein Mensch.«
    »Sie sind einfach brillant«, sage ich, obwohl in Wirklichkeit ich diejenige bin, die brillant ist – die ganzen schimmernden Pigmente und reflektierenden Mikropartikel. Ich werde einigermaßen anständig aussehen da draußen. Niemand wird den winzigen zuckenden Muskel an meinem Auge bemerken. Auch wenn das gar nicht ich bin, dieser Look, diese gigantischen Haare. Wenn ich ehrlich bin – was ich Annie gegenüber niemals zugeben würde –, dann finde ich, dass ich im Vergrößerungsspiegel aussehe wie eine Transe. Frauen verwandeln sich in Männer, wenn sie älter werden, Männer in Frauen. Ich kann mich nicht erinnern, wer das mal gesagt hat. Altwerden ist ein rechter Mist. Doch, wie Clara sagt, die Alternative ist noch schlimmer.
    Hätte ich mir den Tag freinehmen können? Hätte es ausgereicht? Selbst als meine Mutter krank war, habe ich kaum eine Sendung verpasst. Es gab Nächte, da bin ich nicht ins Bett gekommen; ich habe mich um die entsetzlichen Folgen ihrer Krankheit gekümmert und bin in den frühen Morgenstunden wieder die M4 runtergebrettert und stand, an den Händen noch den leisen Hauch von Erbrochenem, lächelnd vor der Kamera. Empfinden viele Frauen das ähnlich? Dass wir durch reines Glück dahin gekommen sind, wo wir sind? Ein Ausrutscher, der kleinste Fehler, und raus sind wir? Doch heute Morgen hätte ich vielleicht nicht kommen sollen. Wenn man mit einer Tragödie konfrontiert ist, bemerkt man es am Anfang manchmal gar nicht. Wir hatten einmal ein Paar in der Sendung, das am Ende des Skiurlaubs gerade beim Kofferpacken war, als ihr kleiner Sohn bei einem Unfall mit einem Schneepflug ums Leben kam; er erstickte unter dem zur Seite geschobenen Schnee. Ein unerträgliches Detail: Nachdem sie den Leichnam ihres kleinen Jungen ins Krankenhaus gebracht hatten, fuhren sie über die Alpen und nahmen die bereits gebuchte Fähre. Ich weiß, dass man mein Erlebnis nicht im Entferntesten mit ihrem vergleichen kann, aber ich will vermutlich darauf hinaus, dass Menschen unter Stress die seltsamsten Dinge tun.
    Annie verlangt nach meinen Fingern – scharlachrote Fingernägel, passend zu den scharlachroten Nelken in der Vase auf dem Couchtisch im Studio. Sie hat ihre Anweisungen. Diese Details sind wichtig. Falls ihr auffällt, dass meine Hände zittern, dann sagt sie nichts. Ich drücke die Handflächen in das Handtuch auf dem Frisiertisch und spüre das Zittern den ganzen Arm rauf.
    Die roten Nägel. Die roten Blumen. Das langärmelige rote Kleid. Ich denke an Blut und Tod, unblutigen Tod – diese Streifen am Hals des Mädchens. Ich wedele mit meinen roten Nägeln vor Annies Nase herum. »Bin ich nicht zu rot?«
    »Fröhlich«, meint Annie. »Aufheiternd an einem grauen Märzmorgen wie heute. Sie sehen toll aus, wie immer. Muntern Sie uns auf. Wir können es Gott weiß gebrauchen.«

    Ich hatte nie vor, Fernsehmoderatorin im Vormittagsprogramm zu werden. Ich bin da reingerutscht. Ich war Rechercheurin und Reporterin, und dann kam das Angebot, und Philip war ganz begeistert, und ich sagte Ja, bevor ich auf die Idee kam, Nein zu sagen. Ein seltsamer Job, weder richtig schauspielern noch richtiger Journalismus. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass er bei jemandem auf der Liste der Traumberufe einen der vorderen Plätze einnimmt. Niemand respektiert eine Fernsehmoderatorin im Tagesprogramm. Wir sind die Kurzschrift für »nichtssagend«, rangieren in der Nahrungskette weit unter unseren Kollegen von den Nachrichten – »süße Gesichter und süße Hintern und nichts dazwischen«, um Kate Adie zu zitieren. »Wenn Mr   Blair anfängt, Bagdad zu bombardieren«, sagt Richard Ingrams, »werden wir darüber von einer lächelnden Tussi mit perfekt gerichteten Zähnen informiert.«
    Wenn ich Studienkollegen aus Oxford sehe, die im Verlagswesen und in der akademischen Welt Karriere gemacht haben, oder einer dieser Tussen über den Weg laufe, mit denen ich bei der
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