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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig
Autoren: Sabine Durrant
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ich sitze hier und alles, woran ich denken kann, ist, wie hässlich Stan ist. Die Musik läuft, das Intro wird abgespielt, und er witzelt durch den Raum – zu den Beleuchtern und den Tonleuten, den Rechercheuren, zu der hübschen India in ihrer Ecke, die auf ihren Einsatz bei Twitter und E-Mail und Facebook wartet. Er ist ein ungehobelter Rugbyspieler: »Was ist der Unterschied zwischen Pädophilie und Nekrophilie? Achtzig Jahre.« Er versucht, mich nervös zu machen. Ich frage mich, ob er nicht ein wenig mit schwerer Zunge spricht.
    Dann sind wir auf Sendung. Ich sage Guten Morgen und erzähle ein bisschen was, und er wendet sich zur Kamera, stellt mit den Augen eine Verbindung zu den Zuschauern her und blickt ihnen tief in die Seele, als wäre er der Einzige, der sie versteht. Bei meiner Begrüßung, eingestellt auf die Stimme in meinem Ohr, sage ich, in der Küche werde uns ein Muppet erwarten, und preise unseren Wettbewerb um das bestgekleidete Mitglied des Unterhauses an. Ich verspreche Sally Bercrows »Presseschau« und verweise auf den Lieblingshund der Nation und die preisgekrönte Hebamme. Doch die Facebook-Mutter haben sie Stan gegeben. Mit ernster Miene und nach unten gezogenen Mundwinkeln kündigt er an, mit welch traurigem Thema wir uns im Laufe der Sendung befassen werden. »Vor einem Jahr«, sagt er schlicht, »verlor Maggie Leonards vierzehnjähriger Sohn das Leben, weil er im Internet schikaniert wurde.« Er bedenkt mich mit einem von geteiltem Leid schweren Blick. Ich nicke mitfühlend und deute ein trauriges Lächeln an. Das stehen wir gemeinsam durch, wir beide.
    Er fährt sich mit der Hand über das Kinn; ich allein kann das Schaben der Haut über die Stoppeln hören.
    »Ein harter Tag«, schließt Stan.

    Vor ein paar Wochen, als ein Kabinettsminister dabei erwischt worden war, wie er bei einer öffentlichen Befragung gelogen hatte, luden wir eine Psychologin ins Studio ein, um über Körpersprache und die Kunst des Lügens zu sprechen. Kinder, sagte sie, halten sich oft den Mund zu, nachdem sie kleinere Lügen erzählt haben; Erwachsene fahren mit der Hand ans Kinn oder hantieren an ihren Manschetten herum – der unbewusste Wunsch, die Arme zu verschränken.
    Während der heutigen Sendung achte ich besonders auf meine Körpersprache, denn ich habe das Gefühl, ich lüge von vorn bis hinten. Es ist mir völlig egal. Heute kommen mir die Banalitäten besonders seicht vor. Ich bin zu spät dran mit meinem Stichwort für India und muss mich live entschuldigen und für die Zuschauer ein »Oh, wie peinlich«-Gesicht aufsetzen. »Kein Problem«, sagt India darauf. Ich äußere mich begeistert über den Lurcher – Billy heißt er –, necke Stan, wünschte, ich hätte die Alarmanlage überprüft, bevor ich das Haus verlassen habe, und hätte Marta gesagt, sie soll nicht durch den Common gehen, sondern den langen Weg zur Schule fahren. Ich hatte meine Gedanken nicht beisammen. Man muss Vorsichtsmaßnahmen treffen.
    Während des Interviews mit Maggie Leonard sitze ich mit zur Seite geneigtem Kopf da. Wir wissen, welches Vokabular am Vormittag erlaubt ist und welches nicht. Wir sprechen von »entschlafen«, »verlor sein Leben«, »ist nicht mehr unter uns«, »hat uns verlassen«. Es ist verrückt, wie viel Mühe wir uns geben, damit uns bloß nicht das Wort »tot« über die Lippen kommt.
    Im Auto auf dem Heimweg lehne ich das Gesicht an die Scheibe. Es ist eine Erleichterung, mich endlich zu entspannen. Ich denke an das arme Mädchen. Das Auto bleibt stehen und fährt weiter, ruckt an und beschleunigt. Ich stoße mir das Kinn, schlage mit der Stirn an. Mein Hals ist ganz schlaff. Steve, mein Fahrer, plaudert über sein Dartspiel am Vorabend und die Straßenbauarbeiten an der Kreuzung Elephant and Castle. »Ich hab dieses Wetter satt«, sagt er. »Es ist nicht kalt, es ist nicht nass, es ist nicht warm. Es ist einfach nichts, oder? Dieses Jahr ist der März einfach nur gar nichts.«
    Ladenfronten, Wellblech, Kreisverkehre, U-Bahn-Eingänge, Bauarbeiten – Kräne und Presslufthammer und mit Graffiti besprühte Markisen, es ist alles noch da. Schreckliche Dinge widerfahren guten Menschen. Busse haben Unfälle, und Kinder sterben. Im Kongo werden Frauen vergewaltigt und verstümmelt – darüber war neulich eine Sendung im Fernsehen. Freunde erzählen einem von Tragödien – der unerwartete Herzinfarkt eines jungen Ehemannes, die tapfere Sechsjährige mit Leukämie. Und sie berühren das eigene
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